EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
III: Karol Rathaus - String Quartet No.5 op.72 (1954)
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EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
I: Ignatz Waghalter - String Quartet D Major op.3 (ca.1900)

01 Allegro Moderato EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
I: Ignatz Waghalter - String Quartet D Major op.3 (ca.1900)
01 Allegro Moderato

02 Allegretto EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
I: Ignatz Waghalter - String Quartet D Major op.3 (ca.1900)
02 Allegretto

03 Adagio ma non troppo e mesto EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
I: Ignatz Waghalter - String Quartet D Major op.3 (ca.1900)
03 Adagio ma non troppo e mesto

04 Allegretto con Variazioni EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
I: Ignatz Waghalter - String Quartet D Major op.3 (ca.1900)
04 Allegretto con Variazioni

II: Ignace Strasfogel - String Quartet No.1 (ca. 1927)

05 Adagio EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
II: Ignace Strasfogel - String Quartet No.1 (ca. 1927)
05 Adagio

06 Allegretto EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
II: Ignace Strasfogel - String Quartet No.1 (ca. 1927)
06 Allegretto

III: Karol Rathaus - String Quartet No.5 op.72 (1954)

07 Allegretto con moto EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
III: Karol Rathaus - String Quartet No.5 op.72 (1954)
07 Allegretto con moto

08 Largo EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
III: Karol Rathaus - String Quartet No.5 op.72 (1954)
08 Largo

09 Allegro vivace EDA 43: Ignatz Waghalter | Ignace Strasfogel | Karol Rathaus: String Quartets
III: Karol Rathaus - String Quartet No.5 op.72 (1954)
09 Allegro vivace

 

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Die CD wurde mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik geehrt und in die Bestenliste 4/2019 aufgenommen.

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"So soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die Tat an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, Dolmetscher und Vermittler der Völker zu sein, mitzuhelfen vermögen."

Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1878

"Ich kann doch – trotz aller Erkenntnis – nicht glauben, dass das Leben in diesem Lande, das das europäischste aller Länder war, nicht mehr tragbar sein wird. Für einen, der wie ich gradlinig (trotz aller Umwege) nach geistigen Prinzipien des Lebens und der Kunst zu wirken bestrebt war, für einen, der eben deshalb mit dem deutschen Geistesleben auf eine so enge und besondere Arte verknüpft war. Vielleicht war es ein Zufall, dass ich in Deutschland und beinahe nur in Deutschland mich durchsetzen konnte. Ich versuchte es ausnahmslos mit meiner Leistung, nie war ich gezwungen, Umwege zu machen, nie brauchte ich gesellschaftliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ist dieses Wirken nur durch das Werk auch woanders denkbar?"

Karol Rathaus an seinen Verleger Hans Heinsheimer, 1933

"Vor meiner Abreise konnte ich noch das gegenwärtige Berlin mit dem früheren vergleichen. Die Pracht der Strassen, die einzigartige Helligkeit und Fröhlichkeit des Lebens und der besondere Glanz der Berliner Sonne verfinsterte sich. Man begeisterte sich dort nicht mehr für die reine Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft. Das einzige Ideal der Jugend beiderlei Geschlechts sind Dauermärsche. Es wird Tag und Nach marschiert. Ein herrliches Leben... Die Halbwüchsigen spielen Soldaten. Und aus dem Spiel wird traditionsgemäß furchtbarer Ernst."

Ignatz Waghalter, Aus dem Ghetto in die Freiheit, 1936 

 

Ausklang – Aufbruch – Synthese

Schon einmal widmeten wir uns in der Serie Poland abroad der Gattung des Streichquartetts. Mit Werken von Mendelson, Padlewski und Laks (EDA 34) stand das Schicksal dreier polnischer Komponisten im Fokus, die Opfer der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik wurden, weil ihnen die Lebensumstände eine Rettung durch Flucht und Exil nicht ermöglichten, bzw. weil sie, wie Padlewski, in den Widerstand gingen. Mit vorliegender Aufnahme richten wir den Blick auf Werk und Biographie dreier polnisch-jüdischer Musiker, denen Getto, Konzentrationslager und gewaltsamer Tod durch rechtzeitige Emigration erspart blieb. Und die entscheidende biographische Details miteinander verbindet. Alle kamen auf polnischem Boden zur Welt, zu einer Zeit, als der polnische Staat noch nicht wieder existierte und ein politischer Spielball der Monarchien Preußens, Österreichs und Russlands war. Alle drei machten Karriere in Berlin. Alle drei retteten sich nach Hitlers Machtergreifung in die USA und wirkten bis zum Ende ihres Lebens in New York.

Die Frage der Herkunft, der Heimat, der Wurzeln und der Identität wurde für Waghalter, Strasfogel und Rathaus erst durch die Stigmatisierung als Juden zum Thema. Das Exil begann für sie nicht in Deutschland, sondern mit dem Weggang aus Deutschland, das sie als eigentliche, als geistige Heimat empfanden. Was Rathaus im April 1933 – aus Paris, der ersten Etappe seines Exils – an seinen Wiener Verleger Hans Heinsheimer schrieb, hätte so auch von Waghalter und Strasfogel formuliert sein können. Die deutsch-österreichisch-polnische Symbiose ist den Werken dieser drei Komponisten, bei aller stilistischen Unterschiedlichkeit, tief eingeschrieben. Das macht sie nicht nur aus musikhistorischer Perspektive interessant. Sie sind, auch und gerade wegen ihrer herausragenden künstlerischen Qualität, Dokumente einer wahrhaft europäischen Kultur, einer Kultur des Dialoges, des Austauschs und der wechselseitigen Befruchtung.

Ignatz Waghalter wurde 1881 als fünfzehntes von zwanzig Kindern einer in armseligen Verhältnissen lebenden Musikerfamilie in Warschau geboren. Die Armut war dem Umstand geschuldet, dass Waghalters Vater streng nach dem jüdischen Ritus lebte, was mit den Arbeitszeiten der Berufsorchester schwer kompatibel war.  Schon als Sechsjähriger musizierte Ignacy bei Festen und in Salons des Warschauer Adels mit seinen Geschwistern. Für eine professionelle Ausbildung aber fehlten die Mittel, und so machte er sich 1898, noch nicht volljährig, nach Berlin auf. Dort wurde seine herausragende Begabung schnell erkannt. Empfehlungen führten ihn zunächst zu  Philipp Scharwenka, bei dem er einige Zeit Komposition studierte, bevor ihn Joseph Joachim unter seine Fittiche nahm und ihm zu einem Studienplatz bei Friedrich Gernsheim an der Preußischen Akademie der Künste verhalf. Gernsheim vermittelte Waghalter das Erbe der deutschen Romantik, vor allem in ihrer klassizistischen Ausprägung bei Brahms, lehrte ihn kompositorisches Handwerk und Ethos, gab dem jugendlich-impulsiven Musikantennaturell Richtung und Ziel. Von dieser Symbiose aus slawischem Überschwang und vergeistigter Satzkunst, so charakteristisch auch für Dvořák,  zeugen Waghalters früheste erhaltene Kammermusikwerke, etwa die auf das Jahr 1902 datierte Violinsonate op.5, die mit dem renommierten Mendelssohn-Preis der Preußischen Akademie der Künste ausgezeichnet wurde, das undatierte, vermutlich 1901 entstandene Streichquartett op.3, aber auch das bemerkenswerte Violinkonzert op.15 von 1910. Dass Waghalter es 1913, als er bereits zu einer Größe des deutschen Musiklebens avanciert war, bei Simrock in Leipzig verlegen ließ, zeugt von seiner hohen Wertschätzung für dieses Jugendwerk. Ein Leben als freischaffender Komponist war für einen polnischen Juden in Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum denkbar, und so entschied sich Waghalter klug, eine Existenz zunächst als Dirigent aufzubauen, wobei ihm kein Geringerer als Arthur Nikisch die Steigbügel hielt. 1907 erfolgte die Berufung an die Komische Oper, wo 1911 auch Waghalters erste Oper Der Teufelsweg uraufgeführt wurde, 1912 die Ernennung zum ersten Chefdirigenten an das neue Deutsche Opernhaus in Charlottenburg, dem Vorläufer der heutigen Deutschen Oper, das unter seiner Leitung am  7. November 1912 mit Beethovens Fidelio eröffnet wurde. Eine enge Freundschaft verband ihn mit deren erstem Intendanten Rudolf Hartmann (Widmungsträger seines Streichquartetts), mit dem zusammen er Ästhetik und Programmatik des neuen Hauses bestimmte, ihre populäre, volksnahe Ausrichtung, die sich als bürgerlicher Gegenentwurf zum elitären Spielplan der Hofoper, der heutigen Berliner Staatsoper, verstand. Zu Waghalters größten Errungenschaften als musikalischer Chef des Deutschen Opernhauses gehören zweifellos die legendären Interpretationen der Puccinischen Open, die Maßstäbe setzten, dem bis dahin in Berlin glücklosen italienischen Komponisten  Triumphe bescherte und der weiteren Verbreitung seiner Werke in Deutschland den Weg ebnete. Nach schwierigen Jahren während des ersten Weltkriegs und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der Oper 1923 legt Waghalter seine Ämter nieder und emigriert ein erstes Mal nach New York. Dort übernahm er von Joseph Stransky die Leitung des New York State Symphony Orchestra, dem Vorläufer der New Yorker Philharmoniker, kehrte trotz der ihm angebotenen Vertragsverlängerung aber schon 1924 wieder nach Deutschland zurück. Die rein kommerzielle Ausrichtung des amerikanischen Musiklebens war ihm zuwider. In der Folge arbeitete er für  Rundfunk und Film (Ufa), dirigierte als Gast am Deutschen Opernhaus und an der Oper in Moskau und leitete für ein Jahr die Nationaloper in Riga. 1933 erneut zur Emigration gezwungen, ging er zunächst in die Tschechoslowakei, wo er seine Autobiographie Aus dem Ghetto in die Freiheit schrieb, von da nach Wien, wo 1937 seine bis heute nicht uraufgeführte letzte Oper Ahasverus und Esther entstand, in der er mit der Purim-Erzählung von der Errettung der persischen Juden eine positive Wendung des sich abzeichnenden Schicksal der europäischen Juden zu beschwören suchte, kurz vor dem "Anschluss" dann ein zweites Mal in die USA, wo die Bedingungen für ihn als einer unter zahlreichen Hilfe und Arbeit suchenden Migranten nichts  mehr mit der luxuriösen Situation seines ersten New Yorker Engagements zu tun hatten. In den USA erlebte er die Apartheit als Spiegel des europäischen Antisemitismus. Sein Plan, ein klassisches Symphonieorchester mit ausschließlich afroamerikanischen Musikern zu gründen, wurde von James Weldon Johnson unterstützt, dem bedeutendsten Wortführer der "Harlem Renaissance". Als scharfer Gegner von Faschismus und allen Formen politischer Reaktion gab Waghalter 1939 in einem Interview seiner Überzeugung Ausdruck, dass Musik "die stärkste Festung der universellen Demokratie" sei. Doch mit Johnsons Tod und angesichts heftiger Widerstände starb auch das Projekt nach nur wenigen Auftritten des Orchesters. Seine für das "American Negro Orchestra" komponierte New World Suite, kam nicht mehr zur Uraufführung. Das Manuskript wurde erst vor kurzem im Nachlass des Komponisten wiederentdeckt, ediert und ersteingespielt. Waghalter starb am 17. April 1949 in New York an den Folgen eines Herzinfarktes. Keine seiner in den 1910er und 1920er Jahren an der Komischen Oper und am Deutschen Opernhaus erfolgreich gespielten Opern und Operetten fand bisher auf die Bühne zurück. Zeugen die CD-Produktionen der letzten Jahren von einem wachsendes Interesse für seine Kammermusik und Orchesterwerke, so gilt es also, die Bühnenwerke des "deutschen Puccini", als den man ihm aufgrund seines unerschöpflichen melodischen Erfindungsreichtums bezeichnete, immer noch wiederzuentdecken.

Nicht weniger vehement war auch der Einschnitt von Hitlers Machtergreifung in die Biographie des 1909 in Warschau geborenen Ignace Strasfogel (polnisch: Ignacy; deutsch: Ignatz)1. 1933, gerade einmal 24 Jahre alt, war er ein noch zu unbeschriebenes Blatt im internationalen Musikleben, eilte ihm noch kein Ruf voraus, der ihm ein Wirkungsfeld als Komponist im Ausland hätte eröffnen können. Für Sensation hatte das Wunderkind, das nach dem frühen Tod des Vaters 1912 mit seiner Mutter nach Berlin kam, allerdings bereits mehrfach gesorgt. Zunächst durch die Tatsache, als jüngster ordentlicher Student der Berliner Musikhochschule mit 13 Jahren in die Klavier-Meisterklasse Leonid Kreutzers und mit 14 in die Kompositions-Meisterklasse Franz Schrekers aufgenommen worden zu sein, zwei der bedeutendsten Talentschmieden der Weimarer Republik. 1926 dann, im Jahr seines Abschlusses, erhielt er den Mendelssohn-Preis für seine 2. Klaviersonate, als jüngster Komponist in der Geschichte dieser wichtigen Auszeichnung. In der Saison 1927/28 begleitet er den ungarischen Geigenstar Joseph Szigeti auf Welttournee, in der darauffolgenden konzertierte er mit Carl Flesch. 1928 kam er noch einmal für ein Dirigier-Aufbaustudium bei Julius Prüwer an die Berliner Musikhochschule zurück. Eine hellsichtige Entscheidung. Denn im New Yorker Exil verhalf ihm seine stupende pianistische Begabung in Verbindung mit seinen dirigentischen Fähigkeiten, die er als Korrepetitor an der Düsseldorfer Oper, an der Berliner Staatsoper und als musikalischer Assistent von Max Reinhardt am Berliner Schauspielhaus vervollkommnen konnte, zu einer Festanstellung an der Metropolitan Opera. Dort arbeitete er – nach einem Zwischenspiel als Orchesterpianist der New Yorker Philharmoniker – von 1951 bis 1971 als  Korrepetitor und ab 1957 auch als Dirigent ungezählter Opernaufführungen. 1974 folgte Strasfogel einem Ruf als Kapellmeister an die Opéra du Rhin nach Straßburg, 1979 jedoch kehrte er in die USA zurück, wo er sich an der New School for Social Research in New York und am Curtis Institute in Philadelphia pädagogischen Aufgaben widmete. Strasfogel hinterließ ein teilweise bis heute unveröffentlichtes Frühwerk und einen nach jahrzehntelangem Verstummen erst in den 1980er und 1990er Jahren entstandenen Schwanengesang. Ein eigentliches Korpus "reifer" Werke (Opern, symphonische Werke, Konzerte), durch den Komponisten seines Schlages Weltruhm erlangt hätten, fehlt.  Allerdings muss man im Falle Strasfogels mit Kategorien wie Früh- und Spätwerk vorsichtig sein. Denn bereits die Werke des Sechzehnjährigen zeugen von einer Meisterschaft, von einer Beherrschung des kompositorischen Handwerks, einer Ausdruckstiefe und einem Reflexionsniveau, wie sie uns eigentlich nur bei den Großen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnen. Niemand würde bei der unvorbereiteten Begegnung mit dem undatierten, vermutlich um 1928 entstandenen 1. Streichquartett glauben, dass es sich dabei um die Musik eines Achtzehn- oder Neunzehnjährigen handelt. Innerhalb seines "Frühwerks"  kommt ihm eine besondere Stellung zu, widmet sich Strasfogel hier doch im Kontext eines hauptsächlich seinem Instrument, dem Klavier gewidmeten Oeuvres erstmals dem ihm nicht "genuinen" Genre des Streichquartetts. Ist Waghalters Jugendwerk in seiner viersätzigen Anlage noch ganz der klassisch-romantischen Tradition verpflichtet, bricht der junge Strasfogel  durch die zweisätzige Anlage seines Quartetts schon auf formaler Ebene mit jeglicher Konvention. Verblüffend für einen Lieblingsschüler Schrekers, der noch bis ins hohe Alter das Andenken an seinen Lehrer hochhielt, ist die stilistische Nähe zur zweiten Wiener Schule. Von dem impressionistisch verfeinerten, spätromantischen Klangzauber  Schrekers ist hier nichts zu hören. Stattdessen hantiert Strasfogel selbstbewußt und ebenso unorthodox wie Berg mit der Zwölftontechnik,  schreibt einen radikalen, aber immer bis ins letzte ausgehörten Kontrapunkt, hebt die Gewichtung von Hauptstimme und Begleitung durch absolute Linearität auf. Reine Dreiklänge fungieren nurmehr als Interpunktionszeichen. Was als langsamer Satz (Adagio) beginnt, wird zunehmend von Scherzo-Elementen durchdrungen und mündet schließlich in eine Fuge (Allegro), die gleichzeitig Durchführung ist, in der das lyrische Eingangsthema mit zwei weiteren, stark kontrastierenden Themen kontrapunktiert wird. Hier ist alles, auf dichtestem Raum gedrängt, thematisch, und doch bleibt die Faktur in jedem Augenblick durchhörbar transparent. Die durch extreme Verdichtung entstandene Energie des ersten Satzes, in dem Tradition allenfalls in der "neobarocken" Konzeption der Themen (Kopf und Fortspinnung respektive Sequenzierung) erfahrbar bleibt, entlädt sich förmlich in der expansiven Struktur des zweiten. Hier begegnen uns "unendliche Melodien", von anderer Faktur, aber von ähnlicher Natur wie beim späten  Schubert, weit gespannte Bögen, von fein ziselierten rhythmischen Pattern in den Nebenstimmen getragen, die immer auch thematische Arbeit sind. Avantgardistisch zeigt sich Strasfogel  vor allem bei der Befreiung der Lineatur von der taktgebundenen Metrik – die Verbindung von Polytempik und Polymetrik im zweiten Satz gehört mit zum Aufregendsten was in der Streichquartett-Literatur dieser Epoche zu finden ist.

Karol Rathaus, ein anderer Lieblingsschüler Schrekers, der seinem Lehrer 1920 von Wien nach Berlin gefolgt war, als Schreker die Leitung der Berliner Musikhochschule übernahm, gehörte 1933 zu den etablierten Größen der deutsch-österreichischen Musikszene. Er erhielt Aufträge u.a. von der Berliner Staatsoper und dem Berliner Staatsballett und wurde von zahlreichen führenden Dirigenten aufgeführt, darunter Kleiber, Furtwängler und Jochum. Als Meilenstein der Komposition für den Film galt seine Musik zu Fedor Ozeps Der Mörder Dimitri Karamasoff (nach Dostojewskis Brüder Karamasow) von 1930. Da Karol Rathaus bereits vor Hitlers Machtergreifung Deutschland verlassen und in Paris als Angestellter einer Filmproduktion keinen Emigrantenstatus hatte, blieb er von der sich zunehmend verschärfenden Einwanderungspolitik in Frankreich zunächst unberührt. Seine ökonomische Situation verschlechterte sich aber bald durch arbeitsrechtliche Restriktionen und Quotenregelungen für Ausländer derart, dass er die Einladung zur Mitarbeit an zwei prominent besetzten Filmproduktionen in London annahm und 1934 nach England übersiedelte. Nach anfänglichen Erfolgen in England  wiederholten sich die in Frankreich gemachten Erfahrungen. Als eine Anstellung als Musikredakteur bei der BBC daran scheiterte, dass er keinen englischen Pass besaß, wurde ihm klar, dass er seine Koffer aufs Neue zu packen hatte. Rathaus setzte auf Hollywood und die amerikanische Filmindustrie. In Hollywood aber waren die Claims abgesteckt, hauptsächlich von Emigranten der ersten Stunde, die neue Maßstäbe für das Genre setzten: Max Steiner hatte sich bereits 1929 in der amerikanischen Traumfabrik etabliert, 1934 folgten Erich Wolfgang Korngold und Franz Waxman. Die Lobby der amerikanischen Filmkomponisten  sorgte dafür, dass Ihnen die Butter nicht vollständig vom Brot genommen wurde, und für die aus Europa nachrückenden Komponisten, selbst vom Schlage eines Rathaus, wurde es immer schwieriger, einen Fuß in die Tür zu bekommen.  Seine Odyssee endete schließlich in New York, wo ihm am renommierten Queens College eine Kompositionsprofessur angeboten wurde.

Der zweiten Wiener Schule näher als seinem Lehrer Schreker ist auch Karol Rathaus 5. Streichquartett, 1954 kurz vor seinem Tod entstanden, seine letzte vollendete Komposition, in der er sich auf ebenso unorthodoxe Weise wie Strasfogel, aber konsequenter als in der 1950 entstandenen Rapsodia Notturna für Cello und Klavier, mit Schönbergs 12-Ton-Technik auseinandersetzt. Zu hören ist dies nur dem geübten Ohr. Und wer mit Rathaus' Oeuvre vertraut ist, wird zwischen den zuvor entstandenen Werken und diesem keinen Bruch erkennen. Tatsächlich finden wir hier alle Charakteristika seines schon in den 1920er Jahren entwickelten Stils: einen melancholischen Lyrismus, einen gezähmten Expressionismus in der Schroffheit mancher Unison-Passagen, typische melodische Wendungen und rhythmische Figuren signaturhaften Charakters, vor allem einen stark narrativen, auf dramatische Höhepunkte hin aufbauenden Gestus. Die ohne jeglichen systematischen Zwang angewandte 12-Ton Technik dient Rathaus zur Vereinheitlichung des Materials vor allem der ersten beiden Sätze, die durch den Bezug auf dieselbe Reihe eine starke Substanzgemeinschaft aufweisen. Statt Vermeidung tonaler Reminiszenzen legt es Rathaus durch die Dominanz von großer und kleiner Terz in der "thematischen" Struktur der Reihe ganz im Gegenteil auf konsonierende oder mild dissonierende Intervallkonstellationen an. Durch die fast durchgehend lineare, kontrapunktische Faktur des Satzes wird der Eindruck von Tonalität im herkömmlichen Sinne aber grundsätzlich vermieden. Denselben Effekt erzielen im dritten Satz chromatische Rückwendungen (die nicht sukzessive sondern sprunghafte Ausfüllung des chromatischen Raumes eines Intervalls) und symmetrisch gebaute Skalen, wie wir es unter anderem auch von Bartók kennen. Rathaus' letztes Werk ist keines der Resignation, der Elan – das zeigt der 3. Satz unmissverständlich – ist ungebrochen. Es ist vielmehr eines der Synthese, in der die Tradition, in der man steht, und das Eigene, das sich darin entwickelt hat, aus einer olympischen Perspektive noch einmal reflektiert und sublimiert wird. Es ist aber auch eines des Abschieds, und – wie Stefan Zweigs im Exil entstandene "Welt von Gestern" – des Bekenntnisses "eines Europäers" zur einer Welt, die 1954 unwiederbringlich verloren war.

Frank Harders-Wuthenow

 


1 Für die Wiederentdeckung Strasfogels als Komponist setzte sich besonders der Geiger und Pianist Kolja Lessing ein, der sowohl Strasfogels Originalkompositionen für Klavier, seine Lieder als auch Strasfogels phänomenale Klavier-Transkriptionen von Werken Schrekers in den Konzertsaal zurückholte und ersteinspielte.

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