EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
XII: Viktor Ullmann – Sonata No.4 Op.38 (1941)
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EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
I: Viktor Ullmann – Sonata No.7 (1943)

01 Allegro EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
I: Viktor Ullmann – Sonata No.7 (1943)
01 Allegro

02 Alla marcia EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
I: Viktor Ullmann – Sonata No.7 (1943)
02 Alla marcia

03 Adagio, ma non troppo EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
I: Viktor Ullmann – Sonata No.7 (1943)
03 Adagio, ma non troppo

04 Allegretto grazioso EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
I: Viktor Ullmann – Sonata No.7 (1943)
04 Allegretto grazioso

05 Variations and Fugue on a Hebrew Folk Tune EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
I: Viktor Ullmann – Sonata No.7 (1943)
05 Variations and Fugue on a Hebrew Folk Tune

II: Viktor Ullmann – Sonata No.1 Op.10 (1936)

07 Andante (quasi marcia funebre) EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
II: Viktor Ullmann – Sonata No.1 Op.10 (1936)
07 Andante (quasi marcia funebre)

06 Molto agitato EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
II: Viktor Ullmann – Sonata No.1 Op.10 (1936)
06 Molto agitato

08 Adagio - Presto EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
II: Viktor Ullmann – Sonata No.1 Op.10 (1936)
08 Adagio - Presto

III: Norbert von Hannenheim - Sonata No.2

09 Andante EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
III: Norbert von Hannenheim - Sonata No.2
09 Andante

10 Allegro molto vivace EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
III: Norbert von Hannenheim - Sonata No.2
10 Allegro molto vivace

IV: Viktor Ullmann - Sonata No.2 Op.19 (1938/39)

11 Allegro energico e agitato EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
IV: Viktor Ullmann - Sonata No.2 Op.19 (1938/39)
11 Allegro energico e agitato

12 Theme and Variations on a Moravian folk tune EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
IV: Viktor Ullmann - Sonata No.2 Op.19 (1938/39)
12 Theme and Variations on a Moravian folk tune

13 Prestissimo EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
IV: Viktor Ullmann - Sonata No.2 Op.19 (1938/39)
13 Prestissimo

V: Norbert von Hannenheim: Sonata No.4a

14 Allegretto EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
V: Norbert von Hannenheim: Sonata No.4a
14 Allegretto

15 Allegro molto vivace EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
V: Norbert von Hannenheim: Sonata No.4a
15 Allegro molto vivace

VI: Viktor Ullmann - Sonata No.6 (1943)

16 Allegro molto EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
VI: Viktor Ullmann - Sonata No.6 (1943)
16 Allegro molto

17 Allegretto grazioso EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
VI: Viktor Ullmann - Sonata No.6 (1943)
17 Allegretto grazioso

18 Presto, ma non troppo EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
VI: Viktor Ullmann - Sonata No.6 (1943)
18 Presto, ma non troppo

19 Allegro molto EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
VI: Viktor Ullmann - Sonata No.6 (1943)
19 Allegro molto

VII: Norbert von Hannenheim: Sonata No.12

20 Adagio EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
VII: Norbert von Hannenheim: Sonata No.12
20 Adagio

21 Allegro EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
VII: Norbert von Hannenheim: Sonata No.12
21 Allegro

VIII: Viktor Ullmann - Sonata No.3 Op.26 (1940)

22 Allegro grazioso, ma agitato EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
VIII: Viktor Ullmann - Sonata No.3 Op.26 (1940)
22 Allegro grazioso, ma agitato

23 Scherzo - Allegro violente EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
VIII: Viktor Ullmann - Sonata No.3 Op.26 (1940)
23 Scherzo - Allegro violente

24 Variations on a Theme by Mozart EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
VIII: Viktor Ullmann - Sonata No.3 Op.26 (1940)
24 Variations on a Theme by Mozart

IX: Norbert von Hannenheim - Sonata No.6

25 Allegro vivace EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
IX: Norbert von Hannenheim - Sonata No.6
25 Allegro vivace

26 Andante EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
IX: Norbert von Hannenheim - Sonata No.6
26 Andante

27 Vivace EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
IX: Norbert von Hannenheim - Sonata No.6
27 Vivace

X: Viktor Ullmann - Sonata No.5 (1943)

28 Allegro con brio EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
X: Viktor Ullmann - Sonata No.5 (1943)
28 Allegro con brio

29 Andante EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
X: Viktor Ullmann - Sonata No.5 (1943)
29 Andante

30 Toccatina EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
X: Viktor Ullmann - Sonata No.5 (1943)
30 Toccatina

31 Serenade EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
X: Viktor Ullmann - Sonata No.5 (1943)
31 Serenade

XI: Norbert von Hannenheim - Sonata No.3

33 Molto Allegro EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
XI: Norbert von Hannenheim - Sonata No.3
33 Molto Allegro

34 Adagio EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
XI: Norbert von Hannenheim - Sonata No.3
34 Adagio

XII: Viktor Ullmann – Sonata No.4 Op.38 (1941)

36 Allegro vivace EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
XII: Viktor Ullmann – Sonata No.4 Op.38 (1941)
36 Allegro vivace

37 Adagio EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
XII: Viktor Ullmann – Sonata No.4 Op.38 (1941)
37 Adagio

38 Finale EDA 38: Viktor Ullmann | Norbert von Hannenheim: Piano Sonatas
XII: Viktor Ullmann – Sonata No.4 Op.38 (1941)
38 Finale

Bereits im Jahr 1993 brachte eda records als erste Veröffentlichung innerhalb der Serie „Theresienstädter Komponisten“ die vielbeachtete Weltersteinspielung der Klaviersonaten Nr. 1 bis 4 von Viktor Ullmann mit der Pianistin Edith Kraus heraus, einer Überlebenden des Ghettos Theresienstadt und dort im Jahr 1943 Uraufführungsinterpretin der 6. Sonate Ullmanns. Edith Kraus, die im vergangenen Jahr im Alter von 100 Jahren verstarb und deren Erinnerung die vorliegende Einspielung gewidmet ist, konnte aus gesundheitlichen Gründen die Sonaten Nr. 5 bis 7 nicht mehr aufnehmen. Zwanzig Jahre später bringt eda records nun sämtliche Sonaten Ullmanns sowie Sonaten Norbert von Hannenheims mit dem jungen Pianisten Moritz Ernst auf einer Doppel-CD heraus.

 

Albert Breier

Von der Rechtlichkeit der musikalischen Form
Viktor Ullmann und Norbert von Hannenheim: Klaviersonaten

Für das 20. Jahrhundert genügt oft die Angabe einiger Lebensdaten und biographischer Stationen, um sich ein Bild von den Erfahrungen und dem Schicksal eines Menschen machen zu können. Das Geburtsjahr 1898 bedeutet: Das Erlebnis des Ersten Weltkriegs in den prägenden Jahren des Erwachsenwerdens; die Versuche, in den keineswegs „goldenen“, sondern ausgesprochen chaotischen Zwanziger Jahren einen festen Stand zu gewinnen; schließlich seit 1933 ein Leben in zunehmender Verfinsterung und Todesgefahr. Viktor Ullmann und Norbert von Hannenheim sind beide im Jahre 1898 geboren, der eine im schlesischen Teschen, der andere im siebenbürgischen Hermannstadt. Beide mussten als Soldaten am Ersten Weltkrieg teilnehmen. Nach dem Ende des Krieges hatten beide lange um Anerkennung ihrer kompositorischen Arbeit zu kämpfen, nach 1933 wurde für beide die künstlerische Entfaltung in der Öffentlichkeit unmöglich. Ullmann wurde im Oktober 1944 in Auschwitz ermordet, Hannenheim starb im September 1945 in einer psychiatrischen Klinik: Auch die Nennung der Todesjahre ruft starke Epochenbilder hervor, es sind Schreckensjahre, die in der Menschheitsgeschichte ohne Gegenstück sind.

Ullmann und Hannenheim haben ihr Leben fast ausschließlich im Gebiet Deutschlands und der seit 1918 nicht mehr bestehenden österreichischen Monarchie verbracht. Als Musiker wurden sie so zu Erben einer großen und prägenden Tradition. Beide studierten überdies bei dem Komponisten, der als der hervorragendste Sachwalter dieser Tradition galt, bei Arnold Schönberg. Mit äußerster Kraftanstrengung hatte Schönberg in den Jahren nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns seine Zwölftonmethode entwickelt, um der Musik Autonomie und somit ein Überleben im Zeitalter der Umstürze zu gewährleisten. Der gewaltige Druck, unter dem dies geschah, hat sich den Werken aus jener Zeit mitgeteilt. Viele unter ihnen besitzen zudem den Charakter des Modellhaften, wie das Bläserquintett op. 26, das Dritte Streichquartett op. 30 oder die Orchestervariationen op. 31. Ullmann wie Hannenheim knüpfen in ihren seit den späten zwanziger Jahren entstandenen Kompositionen daran an. Nur sind bei beiden die Formen, die etwa in Schönbergs Bläserquintett beträchtliche Ausdehnung gewinnen, nicht selten stark verknappt – was den Modellcharakter noch unterstreicht. Keiner der drei Sätze von Hannenheims Klaviersonate Nr. 6 dauert länger als drei Minuten, der dritte Satz von Ullmanns 5. Sonate nimmt gar nur eine Dreiviertelminute in Anspruch. Die viersätzige Norm des 19. Jahrhunderts wird von Ullmann und Hannenheim vermieden, auf leichtgewichtige Scherzo- oder Menuettsätze verzichten beide. Ullmann bevorzugt in seinen früheren Sonaten die Dreisätzigkeit, Hannenheim formt gar zweisätzige Gebilde nach dem Vorbild von Beethovens op. 78, 90 und 111. In Ullmanns späterem Werk erscheinen allerdings wieder ausgedehntere Stücke. Das hängt zusammen mit der Entwicklung hin zu einer größeren stilistischen Vielfalt, die sich im Rahmen einer für Ullmann charakteristischen erweiterten Tonalität äußert. Hannenheim dagegen scheint sich in den dreißiger Jahren immer mehr auf sich selbst zurückzuziehen; setzt Ullmann auf Fülle und Diversität, so Hannenheim auf Kargheit und Innenspannung.

Durch Schönberg und seine Schule hat das kontrapunktische Denken starke Aufwertung erfahren; das hat Einfluss auch auf die instrumentale Schreibweise. Der saftige, mit Verdopplungen aufgefüllte, akkordreiche romantische Klavierklang weicht, bei Hannenheim mehr noch als bei Ullmann, einem drahtigen Liniengeflecht, das keine überflüssigen Verdickungen mehr kennt. Gegen den oft bloß betriebsamen Kontrapunkt neoklassizistischer Komponisten setzen Ullmann und Hannenheim die Präzision und Härte streng geformter Linien. Das führt zu Extremen wie dem seltsam kahlen zweistimmigen Kontrapunkt Note gegen Note zu Beginn des Adagios von Hannenheims Sonate Nr. 3, einer Struktur, die aus der Verbindung von Zurückgenommenheit und Unerbittlichkeit größte Ausdruckskraft gewinnt. Den zweiten Satz seiner Sonate Nr. 6 legt Hannenheim als Passacaglia an. Auch bei Ullmann finden sich allenthalben kontrapunktische Formen, er zeigt dabei eine besondere Vorliebe für die Fuge. Der Hang zur kontrapunktischen Disziplin lässt sich bei Ullmann wie bei Hannenheim verstehen als notwendiger Gegenpol zu einer frei flutenden Fantasie, die oft Gegensätzlichstes nebeneinanderstellt. So kann Ullmann aus einfach und vertraut wirkenden Themen Variationen formen, die gänzlich aufgelöst anmuten, dem Skurrilen und dem Fratzenhaften Raum geben. Man könnte hier, ebenso wie oft bei Hannenheim, geradezu von einer strukturellen Unheimlichkeit sprechen. Vertrautes wird fremd, freundliche Gestalten verwandeln sich in sinistre und sind doch aus demselben Notenvorrat gebildet. Das ist Musik einer Zeit, in der alle Grenzen verfließen, alle Identitäten unbestimmt werden und es keine festen Bezugspunkte mehr zu geben scheint, in der das wache Ich großen seelischen Belastungen ausgesetzt ist.

Hannenheim wie Ullmann haben Perioden einschneidender nervlicher Krisen durchlebt. Bei beiden spielt in diesem Zusammenhang die Problematik des Doppelgängers eine große Rolle. Ullmann hat sich mit ihr in seinem „Tagebuch in Versen“ Der fremde Passagier auseinandergesetzt. Bei Hannenheim findet das Doppelgängerproblem direkten Eingang in die musikalische Gestaltung. In seiner Musik wird die Anerkennung zweifelloser Identität, die am Anfang des abendländischen musiklogischen Regelwerks steht, in fast jedem Bereich musikalischer Formung nicht vollzogen. Finden etwa seine musikalischen Gestalten scheinbar doch ein Gegenüber, so erweist sich bei genauerer Analyse fast stets, dass die Übereinstimmungen größer sind als die Unterschiede. Die Themen von Hannenheims „B-Teilen“ sind entweder Neuformulierungen der im „A-Teil“ exponierten Gestalten oder – auf eine charakteristische Art – deren Schatten. In den Reihenkompositionen kann Hannenheim sogar neue Reihen einführen, ohne dass man das Gefühl verlöre, es mit bereits Bekanntem zu tun zu haben. Es bedeutet dabei keinen Unterschied, ob solche neuen Reihen sich doch als durch einfache oder kompliziertere Verfahren aus der Anfangsreihe entwickelte Gebilde erweisen, oder ob sich keinerlei Beziehung feststellen lässt. Hannenheims multiples Ich erkennt überkommene Regeln nicht an, ohne doch deswegen frei zu sein. Denn das Ich und seine Doppelgänger stehen unter demselben Zwang; einem Zwang, der von keiner menschlichen Instanz gesetzt ist und auch von Menschen in seiner Wirkungsweise nicht durchschaut werden kann, von seiner Aufhebung ganz zu schweigen. Die Zahl der Doppelgängergestalten kann bei Hannenheim beliebig groß sein, sodass manchmal die Bezeichnung einer „Urgestalt” arbiträr wird. Eine für die bewusste Wahrnehmung besonders unheimliche Wirkung entsteht, wenn zwei im Doppelgängerverhältnis zueinander stehende Gestalten gleichzeitig auftreten; es geschieht dann, dass jetzt die eine und im nächsten Moment schon die andere die Führung übernimmt: Jemand, der eben noch hinter mir marschierte, befindet sich plötzlich vor mir, ohne dass ich bemerkt hätte, wann und wie er mich überholte. In anderen Fällen ist die Doppelgängergestalt nicht sofort als solche erkennbar, sie muss erst als das, was sie ist, enthüllt werden. Hannenheim scheint zu wissen, dass alle musikalischen Gestalten noch nicht enthüllte Doppelgängergestalten sind.

Hannenheim scheint mit weißer und mit schwarzer Magie sehr vertraut gewesen zu sein und schrieb sich offenbar selbst magische Kräfte zu. Auch Ullmann betrieb esoterische Studien; zeitweilig stand er der Anthroposophie sehr nahe. Hannenheim wie Ullmann zeigen zudem in ihrer Musik eine gewisse Nähe zur mystischen Welt Alexander Skrjabins: Finden sich bei Hannenheim manchmal – etwa zu Beginn der Klaviersonate Nr. 6 – die für Skrjabin typischen „Aufflüge“, so hat Ullmann in seinen späten Jahren eine Harmonik entwickelt, die in manchem dem aus dem sogenannten mystischen Akkord entfalteten Harmoniesystem des russischen Symbolisten entspricht. Anders als Skrjabin entrücken allerdings weder Ullmann noch Hannenheim ihre Hörer in ein mystisches Traumland. Stefan Georges „luft von anderem planeten“, im Finalsatz von Schönbergs Zweitem Streichquartett beschworen, haben beide nur sehr sparsam eingeatmet. Die Heimat ihrer Musik ist diese Welt, die von Menschen und Dämonen bevölkerte.

Der Hang zum Magischen – dem übrigens auch Arnold Schönberg öfter nachgegeben hat – lässt sich aus der Hoffnung verstehen, in einer Zeit der Unsicherheit und des raschen Wandels in übersinnlichen Bereichen Zuflucht finden zu können. Der Versuch muss zwiespältig bleiben. Eine überlieferte Äußerung Hannenheims aus den späten 30er Jahren lautet: „Wir leben in einer Umbruchzeit. Der Teufel, alle Teufel sind los. Ich bin auch so ein Teufel.“ Wie jeden Magier überkamen ihn zuweilen Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Tuns, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Hannenheims Versuch der Vernichtung seiner Werke vom Zweifel diktiert wurde, ob seine Schöpfungen nicht Produkte unerlaubter schwarzmagischer Ambition seien. Gegen das ausschweifende magische Wesen setzte Hannenheim aber immer wieder die Kraft der durch die Tradition legitimierten Form, hierin mit Ullmann ganz einig. Mit der Berliner Atmosphäre hängt bei Hannenheim dabei vielleicht eine größere Abstraktheit des musikalischen Denkens zusammen, während Ullmann aus dem überwältigend reichen Fundus des böhmischen Musiklebens schöpfen konnte.

Das Grauenvolle an der Situation der frühen dreißiger Jahre war, dass in ihr jeder, auch der Nächste, ein unerkannter Feind sein konnte. Dieser Nächste mochte dem Selbst in fast jeder Hinsicht ähnlich sein, er war jedoch darauf aus, das Selbst zu vernichten. Als der Feind schließlich in Gestalt der Nazis erkennbar wurde, behielt er nach außen manchmal die Freundesgeste bei: In Theresienstadt durfte Musik gemacht werden, der Welt wurde ein „Kulturleben“ präsentiert. Für Viktor Ullmann war die Möglichkeit, in Theresienstadt zu komponieren, Nahrung seines Lebenswillens. In seinem Aufsatz Goethe und Ghetto schreibt er:

„Theresienstadt war und ist für mich Schule der Form. Früher, wo man Wucht und Last des stofflichen Lebens nicht fühlte, weil der Komfort, diese Magie der Zivilisation, sie verdrängte, war es leicht, die schöne Form zu schaffen. Hier, wo man auch im täglichen Leben den Stoff durch die Form zu überwinden hat, wo alles Musische in vollem Gegensatz zur Umwelt steht: Hier ist die wahre Meisterschule, wenn man mit Schiller den Sinn des Kunstwerks darin sieht: den Stoff durch die Form zu vertilgen – was ja vermutlich die Mission des Menschen überhaupt ist, nicht nur des aesthetischen, sondern auch des ethischen Menschen.“

Je enger der Wirkungskreis Ullmanns wurde, umso weiter wird die geistige Welt, deren Ausdruck seine letzten Klaviersonaten sind. Musiken verschiedener Kulturen finden ebenso Eingang in sein Werk wie Gesänge verschiedener Religionen. Die 7. Sonate enthält als Finale Variationen über ein hebräisches Volkslied; es erscheint in diesem Satz aber auch der protestantische Choral Nun danket alle Gott sowie der Hussitenchoral, dessen Text einen Hinweis gibt, aus welchen Quellen Ullmann in Theresienstadt Kraft zu künstlerischer Arbeit schöpfte:

Ihr, die ihr Gottes Streiter seid,
Und Untertanen Seiner Gerechtigkeit,

Betet zu Gott um Seine Hilfe und vertraut auf Ihn,
Dass ihr am Ende mit Ihm weiter siegreich bleibt.

Die Variationsform wird von Ullmann auch sonst bevorzugt. In ihr erblickt er die Möglichkeit, auf kleinem Raum eine große stilistische und satztechnische Vielfalt auszubreiten, wobei das gleichbleibende Thema den Zusammenhalt zu garantieren hat. Schon die Themen selbst entstammen bei Ullmann ganz verschiedenen Bereichen: Genauso wie eine hebräische Weise kann eine frühe Melodie Mozarts Verwendung finden (im dritten Satz, Andante grazioso, der 3. Sonate). Der zweite Satz der 2. Sonate verwendet als Thema ein von Leoš Janáček aufgezeichnetes mährisches Volkslied. Ullmann dürfte sich mit dem Werk des Brünner Meisters ausführlich auseinandergesetzt haben. Ob er allerdings auch Gelegenheit hatte, Janáčeks letzte Oper Aus einem Totenhaus zu hören, ist fraglich. Deren Handlung spielt sich in einem russischen Straflager ab. Durch Janáčeks an expressiver Intensität nie nachlassende Musik erhält der Lebenswille der Lagerhäftlinge eine äußerst eindrückliche Darstellung. Musik, die aus dem Lager kommt, kann durchaus Zeugnis von der Freiheit ablegen, wie umgekehrt unter „freien“ Umständen geschaffene Werke von Restriktion und Zwang  gekennzeichnet sein können. Ob ein Zwang selbst auferlegt ist oder von anderen, ist dabei ein Unterschied ums Ganze. Nur solche Komponisten haben etwa die Verwendung der Zwölftonmethode als Zwang empfunden, die sie als von außen kommendes, unpersönliches Regelwerk betrachteten. Ullmann und Hannenheim haben sich beide mit der Reihentechnik auseinandergesetzt, aber es gibt von ihnen keine dogmatischen Zwölftonstücke. Bei Hannenheim kann die Zahl der Töne einer Grundreihe höher als zwölf sein; Ullmann hat sich um eine Versöhnung des Reihendenkens mit der Tonalität bemüht, Anregungen Alban Bergs folgend.

Von Ullmann wie von Hannenheim sind durch die Umstände der Zeit zahlreiche Werke verlorengegangen. Erhalten gebliebene Listen erlauben es, den Umfang des Verlorenen einzuschätzen. Bei Ullmann betreffen die Verluste vor allem die Musik der zwanziger und dreißiger Jahre, während fast alle in Theresienstadt entstandenen Werke gerettet werden konnten. Von Hannenheim sind etwa 230 Werktitel bekannt, erhalten sind nach jetzigem Stand ungefähr 45 Kompositionen. Eine auch nur ungefähre Einschätzung des Hannenheimschen Oeuvres ist daher nicht möglich. Im Falle der wahrscheinlich in den dreißiger Jahren entstandenen Klaviersonaten wäre zu berücksichtigen, dass Hannenheim es liebte, Kompositionen gleicher Art zu Gruppen – von drei, von sechs, von zwölf – zusammenzufassen, wie es barocker und, bis gegen 1800, auch klassischer Praxis entsprach. Der Ort einer Sonate innerhalb einer solchen Gruppe müsste ihre Analyse wie ihre Interpretation bestimmen; das ist nicht mehr zu leisten. Wenn Hannenheims Werk auch nur fragmentarisch überliefert ist, wie in geringerem Maße auch das Werk Ullmanns, so ist solcher Fragmentcharakter doch nicht intendiert gewesen. Vor allem entspricht er nicht der Ästhetik beider Komponisten. Bei aller Knappheit sind ihre Werke auf Vollständigkeit aus, sie spannen Bögen, die keine Unterbrechung dulden. Der glückliche Zufall hat gefügt, dass offenbar sämtliche Klaviersonaten Ullmanns erhalten geblieben sind. Die Reihe dieser zwischen 1936 und 1944 geschriebenen Stücke lässt sich als ein Kompendium der Ullmannschen Kompositionskunst betrachten.

Anton Webern, ein anderer Schönbergschüler, zitiert in einem Brief von 1944 ein Wort Hölderlins: „Leben heißt eine Form verteidigen.“ Was Tun und Dasein des Künstlers rechtfertigt, ist die Form. Sie bedeutet für Ullmann wie für Hannenheim Rechtlichkeit in einer Zeit des Unrechts. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat das Lager – und nicht den Staat – zum biopolitischen Paradigma des Abendlandes erklärt. Auf den Lagerinsassen kann politisch zugegriffen werden, ohne dass er ein rechtliches Dasein besitzt. Auf die Lagersituation antwortet der Künstler mit dem Appell an die künstlerische Form, die für ihn auch eine Rechtsform ist. Die Krise der Form in der modernen Kunst ist vor allem auch eine Krise ihrer Legitimität. Sie ist bis heute nicht überwunden. Die Nazis fassten die Musik in Theresienstadt unter die Rubrik „Freizeitgestaltung“. Die Art, wie dieser Kunst damit jedes höhere Recht abgesprochen wurde, ist keineswegs mit den Nazis aus der Welt verschwunden. Die Musik Viktor Ullmanns und Norbert von Hannenheims legt Zeugnis ab vom Glauben an die hohe Bestimmung des musikalischen Tuns. Sie beweist ihre Lebendigkeit in ihrer der widrigsten Situation abgerungenen Formkraft; das lässt sie uns gerade heute schätzen und ehren.

 

Anmerkung

Die Reihenfolge der Sonaten auf dieser Einspielung entspricht weder der Nummerierung noch der Chronologie. Sie wurde gewählt, um ein abwechslungsreiches Hörerlebnis zu gewährleisten und einige Facetten der Kompositionskunst Ullmanns und Hannenheims deutlicher hervortreten zu lassen. So sind die Sonaten von Ullmann nach steigendem Komplexitätsgrad der fugierten Sätze angeordnet; gegenläufig dazu geschieht die Reihung bei Hannenheim nach dem Gesichtspunkt zunehmender Entspanntheit. Der beständige Wechsel zwischen den Werken des einen und des anderen rückt die persönlichen Eigenarten Ullmanns und Hannenheims in immer neue kontrastierende Beleuchtungen. Durch die direkte Aufeinanderfolge der letzten und der ersten Sonate Ullmanns wird schon zu Beginn ein großer Bogen gespannt, innerhalb dessen sich die Musik der beiden Komponisten in ihrem ganzen Reichtum entfaltet.

 

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