EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
II: Dmitri Shostakovich – Piano Quintet in G minor op. 57
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EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
I: Anton Rubinstein – Piano Quintet in G minor op. 99 (1876)

1 Molto lento – Allegro moderato EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
I: Anton Rubinstein – Piano Quintet in G minor op. 99 (1876)
1 Molto lento – Allegro moderato

2 Moderato EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
I: Anton Rubinstein – Piano Quintet in G minor op. 99 (1876)
2 Moderato

3 Variations EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
I: Anton Rubinstein – Piano Quintet in G minor op. 99 (1876)
3 Variations

4 Moderato EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
I: Anton Rubinstein – Piano Quintet in G minor op. 99 (1876)
4 Moderato

II: Dmitri Shostakovich – Piano Quintet in G minor op. 57

5 Prelude EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
II: Dmitri Shostakovich – Piano Quintet in G minor op. 57
5 Prelude

6 Fugue EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
II: Dmitri Shostakovich – Piano Quintet in G minor op. 57
6 Fugue

7 Scherzo EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
II: Dmitri Shostakovich – Piano Quintet in G minor op. 57
7 Scherzo

8 Intermezzo EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
II: Dmitri Shostakovich – Piano Quintet in G minor op. 57
8 Intermezzo

9 Finale EDA 53: Hans Winterberg: Chamber Music Vol. 2
II: Dmitri Shostakovich – Piano Quintet in G minor op. 57
9 Finale

Dort und Hier

Mit diesem Vol. 2 unserer Hans Winterbergs Kammermusik gewidmeten Serie wollen wir nicht nur eine Reihe weiterer herausragender Stücke dieses Prager Komponisten ins Musikleben zurückholen, sondern uns vor allem auch weiter mit einem komplexen, wenig bekannten Kapitel der europäischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Anders als auf Vol. 1 (EDA 51), wo wir die Werke aus dramaturgischen Gründen nach ihrem Entstehungsjahr rückläufig auf der Zeitachse anordneten, präsentieren wir sie hier im historischen und topographischen Zickzackkurs, dem Motto "Dort und Hier" folgend, unter das wir diese Aufnahme stellen möchten in Anlehnung an den Titel des außergewöhnlichen Liederzyklus' Winterbergs auf Texte des Prager Dichters Franz Werfel.

1950–1952

Die Zeit um 1950 war eine gute für Hans Winterberg. Sie bedeutete einen ersten Ruhepunkt nach der dramatischen Odyssee der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Die Ehe mit der Gesangsstudentin Adelheid Reinhardt (später Ehrengut), die er vermutlich als Dozent am Münchner Konservatorium kennengelernt hatte, verhalf ihm 1950 endlich zu einem deutschen Pass. Als österreichischer Bürger der k. u. k. Monarchie 1901 in Prag geboren, war dies sein fünfter "Identitäts"-Wechsel nach der Erlangung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft 1918, dem Verlust derselben 1939 durch den Anschluss der sogenannten "Resttschechei" an Nazi-Deutschland, der Wiedererlangung eines tschechoslowakischen Passes nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt 1945 und der Auswanderung nach Bayern 1947, die ihn zum Staatenlosen bzw. zum "Volksdeutschen" machte. Winterbergs seit Jahrhunderten in Prag ansässige böhmisch-jüdische Familie hatte sich bei der Volkszählung 1930 zur tschechischen Sprache und zum Tschechentum bekannt, im Gegensatz zu vielen anderen deutschsprachigen jüdischen Familien und natürlich zu den Sudetendeutschen, die nach 1933 dann mehrheitlich den Anschluss an das Deutsche Reich herbeisehnten. Dadurch blieb Winterberg zwar die Vertreibung aus der Tschechoslowakei nach Inkrafttreten der Beneš-Dekrete erspart. Aber als er im Juni 1945 aus Theresienstadt nach Prag zurückkehrte, war er allein. Seine (nicht-jüdische) Frau Maria Maschat und die gemeinsame Tochter Ruth mussten die Tschechoslowakei verlassen. Nahezu seine gesamte Familie, seine ehemaligen jüdischen Freunde und Kollegen waren umgebracht worden, und alle nicht-jüdischen Kommilitonen aus den Meisterklassen Alexander Zemlinskys, Fidelio F. Finkes und Alois Hábas nach Deutschland umgesiedelt. Der Not gehorchend, kaum dem inneren Triebe, emigrierte er 1947, noch vor dem kommunistischen Staatsstreich, nach München, um in der Nähe seiner 1944 von ihm zwangsgeschiedenen Frau und seiner Tochter zu sein, vor allem aber auch in der Nähe einer Reihe von Musikern, die ihn beim Aufbau einer zunächst sehr erfolgversprechenden Karriere unterstützen sollten.

Sein wichtigster Förderer war zweifellos Fritz Rieger, ein Prager Studienkollege. Rieger bekleidete ab 1947 die Stelle des GMDs des Nationalorchesters in Mannheim, wo er 1949 Winterbergs bereits vor dem Krieg vollendete 1. Symphonie zur Uraufführung brachte. Im selben Jahr übernahm Rieger als Nachfolger Hans Rosbauds die Chefstelle bei den Münchner Philharmonikern. Gleich in seiner zweiten Saison dirigierte er die Uraufführung von Winterbergs 1. Klavierkonzert (13.11.1950), gefolgt von der Uraufführung des 2. Klavierkonzerts (29.01.1952) und – am Tag seiner Ernennung zum Generalmusikdirektor der Stadt München – die Uraufführung von Winterbergs Suite für Streichorchester (12.02.1952). In der Saison 1952/53 überließ er sein Orchester dem Ersten Kapellmeister des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, Jan Koetsier, für die Uraufführung von Winterbergs 2. Symphonie (19.12.1952). Winterberg knüpfte in dieser Zeit nicht nur Kontakte zu Musikern der Münchner Philharmoniker, sondern auch des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. So spielte das Koeckert-Quartett, die legendäre Formation des Konzertmeisters des Rundfunksymphonieorchesters, am 15. Januar 1951 die Uraufführung von Winterbergs 2. Streichquartett aus dem Kriegsjahr 1942. Winterberg erlebte also in dichter Folge prominente Aufführungen sowohl von bereits in Prag entstandenen wie von frisch komponierten Werken. Beflügelt von euphorischen Publikumsreaktionen ("Das erstaufgeführte Klavierkonzert von Hans Winterberg wurde stürmisch da capo verlangt." Süddeutsche Zeitung, 17. November 1950) und exzellenter Presse, schrieb er in dieser Zeit großartige Kammermusik wie die Suite für Bratsche und Klavier, die Cellosonate (beide EDA 51), das Concertino für Trompete, Horn, Posaune, Pauke und Klavier und die Rhapsodie für Posaune und Klavier.

Das 1950 für die variable Besetzung Klarinette oder Violine, Cello und Klavier entstandene Trio wurde am 18. Januar 1952 im Münchner Amerika-Haus durch das Trio der Münchner Pianistin Rosina Walter uraufgeführt mit dem Geiger Ludwig Baier und dem Cellisten Kurt Engert, eingeschworenen Kammermusikkollegen. Engert war zu diesem Zeitpunkt Solocellist der Münchner Philharmoniker, Ludwig Baier Mitglied der Violin-Sektion desselben Orchesters, 2. Geiger auch des Sonnleitner-Quartetts, des Streichquartetts des Konzertmeisters der Philharmoniker, das 1971 Winterbergs 3. Streichquartett aus der Taufe heben sollte. Bessere und angesehenere Musiker waren zu diesem Zeitpunkt in München kaum zu finden.

Eine weitere Aufführung durch das Walter-Trio ist nicht dokumentiert, dafür aber eine Konzerttournee des Magda-Rusy-Trios 1954/55. Die in München hochangesehene Pianistin, 1907 in Karlsbad geboren, lebte in Dießen am Ammersee in unmittelbarer Nachbarschaft Winterbergs, der seit 1948 in Riederau ansässig war. Als Sudetendeutsche war sie offensichtlich den Vertriebenenverbänden assoziiert – das Münchner Konzert der Tournee, die im August 1954 in Maribor begann und die Musikerinnen auch nach Belgrad, Wien, Graz und Zagreb führte, fand am 15. Januar 1955 im Saal an der Sophienstraße statt. Veranstalter war die Landesgruppe Bayern der Künstlergilde e. V., des 1948 in Esslingen gegründeten "Verbands der Heimatvertriebenen Kulturschaffenden". Unter dem Motto "Musik aus Böhmen" wurden Trios von Fidelio F. Finke, Heinrich Simbriger, Hans Winterberg und Antonín Dvořák präsentiert. Eine überaus aufschlussreiche Programmzusammenstellung. Hier sehen wir Winterberg nicht nur im Kontext eines der Ahnherren der böhmischen Musiktradition, in der er sich selbst verwurzelt sah. Bei Fidelio F. Finke, Rektor der Deutschen Akademie für Musik in Prag zwischen 1927 und 1945, hatten er und Fritz Rieger studiert, aber auch Heinrich Simbriger, der in folgenden Jahren immer größere Bedeutung für Winterberg bekommen sollte, und der ab 1966 das dem Schaffen der deutschen Komponistinnen und Komponisten in den ehemaligen "deutschen Ostgebieten" gewidmete Musikarchiv der Künstlergilde in Esslingen aufbaute. Wir werden im Zusammenhang mit der Sudeten-Suite auf ihn zurückkommen.

Die Position Winterbergs im Kontext der zeitgenössischen Musik in Deutschland ist aus den Kritiken in der Münchner Presse dieser Zeit gut abzulesen. Immer wieder treffen wir neben der Erwähnung seiner Herkunft und seiner Lehrer auf die klischeehafte Herausstreichung besonders "nicht-deutscher" Attribute. Dies konnte durchaus positiv intendiert sein, auch wenn seine Musik gleichzeitig dazu diente, gegen die sich in den 1950er Jahren durchsetzende 'Darmstädter/Donaueschinger Avantgarde' zu polemisieren. So etwa in der Besprechung der Uraufführung der Suite für Streichorchester im Februar 1952, einen Monat nach der Uraufführung des Klaviertrios: "Seine Abstammung aus einem Lande des Rhythmus, nämlich aus Böhmen, bewahrt ihn vor intellektualistischen Abenteuern, worin ich auch einen Grund sehe, warum sich Rieger für ihn interessiert." (SZ, 14.02.1952) Eine Spitze gegen die "intellektualistischen Programme" von Riegers Vorgänger Rosbaud. Scheinbar wohlwollend, doch voller Ressentiments beurteilte die Süddeutsche Zeitung dann das Trio nach der Münchner Aufführung im Januar 1955 als "eine impressionistisch-slawophile, formal unbekümmerte aber farblich empfindsame und melismatisch fein verästelte Arbeit". Und führt weiter aus: "Winterbergs Opus, von vagabundierenden, konturfernen Impressionen zum slawischen Festland rhythmischer Schwerpunkte findend, stellt in sich einen kleinen Entwicklungsprozeß dar, als entdeckte der begabte, feinnervige Autor erst während des Komponierens sich selber. Doch möchte ich fast glauben, daß dieses stilschwankende Selbst seinen Standort unter den Nachfolgern Debussys hat." Das ist in seiner ganzen Manieriertheit heftig tendenziös, birgt aber eine richtige Beobachtung: Der "Entwicklungsprozeß" von einer scheinbar frei assoziativen, rhapsodisch-klangmalerischen Textur hin zu einer Fokussierung auf rhythmisch profilierte, tänzerisch energetische Prozesse ist durchaus charakteristisch für Winterberg und macht den Reiz vieler seiner Werke aus.

Mit seinen fast 17 Minuten Spieldauer und der viersätzigen Anlage gehört das Trio im Vergleich mit Winterbergs konzise gefassten dreisätzigen Suiten schon rein äußerlich zu seinen gewichtigeren Kammermusikwerken. Es besticht durch seine formale Perfektion, seinen enormen Kontrastreichtum auf formaler, "erzählerischer" und emotionaler Ebene, durch subtilen Humor und eine gehörige Portion Ironie, die interpretatorisch freigelegt werden will. Welch ein unglaublicher Spannungsbogen, der da gezogen wird, vom melancholisch-pastoralen Kopfsatz mit seinen Anklängen an Mahlers "Ablösung im Sommer" im Seitenthema über die fahlen Farben des Andante sostenuto zum heiter beschwingten "höfischen" Tempo di Minuetto, das durch ein sehr paganes, Bartók Referenz erweisendes Allegro barbaro hinweggefegt wird, in dem man geneigt ist, die Ursprünge von Ragtime und Boogie-Woogie in der böhmischen Folklore zu sehen.

Auffallend ist, dass sowohl die "impressionistischen" wie "slawophilen" Momente in der im September 1952 vollendeten 2. Trompetensuite, mit der Winterberg den Reigen der Kammermusikwerke der frühen 1950er Jahre abschließt, stark zurücktreten. So als wolle er in Reaktion auf die Pressestimmen, die seine Ankunft im Münchner Musikleben begleiteten, sein offensichtliches musikalisches Außenseitertum kaschieren und durch die Herausstreichung eher "neusachlicher" Stileigenschaften à la Hindemith und Weill den Beweis seiner Zugehörigkeit zur deutschen Tradition erbringen. Über die Entstehungshintergründe der 2. Trompetensuite kann aufgrund fehlender Quellen nur spekuliert werden. Möglicherweise entstand sie auf Initiative des Münchner Trompeters Willy Brem, der Winterbergs im Herbst 1945 in Prag komponierte 1. Trompetensuite am 2. März 1950 im Münchner Amerika-Haus mit großem Erfolg gespielt hatte.1 Aufführungen zu Lebzeiten Winterbergs sind nicht dokumentiert.

1942–1944

Durch die erst nach der "Wende", in den 1990er Jahren einsetzende Beschäftigung mit den sogenannten "Theresienstädter Komponisten" wurde die internationale Musikwelt auf das Schicksal der jüdischen Musikerelite der Tschechoslowakei aufmerksam, die mit wenigen Ausnahmen der Shoah zum Opfer fiel. Hans Winterberg, der wie Hans Krása bei Theresia Wallerstein (Schwester des Regisseurs Lothar Wallerstein) Klavier studiert hatte und ab 1937 noch einmal ein Aufbaustudium bei dem Viertel- und Sechstelton-Apostel Alois Hába absolvierte, zusammen mit dem 18 Jahre jüngeren Gideon Klein, gehörte nicht und wiederum doch zu ihnen. Warum er nicht bereits 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, erklärt sich aus der Tatsache, dass er durch die "Mischehe" mit einer Sudetendeutschen und durch die gemeinsame Tochter zunächst geschützt war. Fest steht, dass er in diesem Jahr von seiner Familie getrennt wurde und in ein sogenanntes Judenhaus umziehen musste. Wie aus den Akten des Bayerischen Landesentschädigungsamtes ersichtlich ist, leistete er ab 1941 Zwangsarbeit. Die Ehe wurde am 2. Dezember 1944 "im Sinne des Reichsehegesetzes" geschieden; von diesem Augenblick an, gab es eigentlich keine Möglichkeit mehr für ihn, der deutschen Vernichtungsmaschinerie zu entkommen. Winterberg überlebte die Zeit zwischen "Anschluss", Berufsverbot und Deportation nach Theresienstadt am 25. Januar 1945 offenbar unter Bedingungen, die ihm das Organisieren von Notenpapier und das Komponieren ermöglichten. In welcher Verfassung er war, darüber gibt seine Notenhandschrift beredt Auskunft. Zwischen 1942 und 1945 entstanden das 2. Streichquartett, die beiden Suiten für Violine respektive Klarinette und Klavier, sowie die 2. Symphonie, deren letzter Satz erst nach dem Krieg vollendet wurde – als "Überlebens-Symphonie" eines der ergreifendsten Zeugnisse geistigen Widerstands gegen den Nazi-Terror und darin ein Gegenstück zur "Nichtüberlebens-Symphonie" seines Leidensgenossen Pavel Haas.

Beide Suiten zeichnen sich durch aphoristische Kürze aus und durch ihre äußerst idiomatischen Instrumentalparts: Expressives Melos, virtuose Arpeggien und Doppelgriffe geben der Geige Gelegenheit zur Demonstration technischer Meisterschaft, so wie die Klarinette mit schnellen Läufen, halsbrecherischen Sprüngen über mehrere Oktaven, Spezialeffekten wie Flatterzunge und Glissandi ihre Agilität unter Beweis stellen kann. 1942 begann für Winterberg die Zeit vollkommener Ungewissheit. Seine Mutter und Therese Wallerstein wurden nach Theresienstadt deportiert, von da aus ins südlich von Minsk gelegene Vernichtungslager Maly Trostinec und dort umgebracht. Wovon Winterberg allerdings erst Jahre nach Ende des Krieges Gewissheit hatte. Persönliches Leid oder Betroffenheit kommt in den Suiten allerdings nur stark sublimiert zum Ausdruck. Am ehesten in den beiden ersten, melancholischen Sätzen der Violinsuite. Bezeichnend dann der Impetus des letzten Satzes, mit seinen wie in Stein gemeißelten punktierten und synkopierten Klavierakkorden, die alle Tendenz zur Resignation mit wildem Trotz hinwegfegen. Mehr als die Violinsuite scheint die Klarinettensuite den Zustand eines Individuums widerzuspiegeln, das aus aller "logischen" Raum- und Zeitkontinuität herausgefallen ist. Wie eingefroren wirken die Klavierostinati, die die gesamte zweite Hälfte des ersten Satzes dominieren, über denen die Klarinette rhythmisch frei schwebend das Dasein reflektiert. "Zwischenspiel" ist der zweite Satz überschrieben. Die langsam arpeggierten, dissonanten Akkordschichtungen rufen die Akkordtürme in Bergs drittem Altenberg-Lied in Erinnerung: "Leben und Traum vom Leben, plötzlich ist alles aus". Das "Zwischenspiel" ist nicht die Brücke zu einem nächsten Satz, wie das "Intermezzo" in Brahms 3. Klaviersonate, sondern wird direkt vom "Nachspiel" gefolgt, so als gäbe es die "eigentliche" Musik dazwischen nicht mehr. Beide Suiten sind Lehrstücke in Winterbergs in den 1930er Jahren zur Vollendung gelangten Meisterschaft im Umgang mit polyrhythmischen und polymetrischen Verfahren, mit denen er berückend-aufregend schöne Wirkungen erzielt. Auf dem Titelblatt des Manuskripts der Klarinettensuite notierte Winterberg "Gall, Filharmoniker". Gemeint war der legendäre Rudolf Gall, Soloklarinettist der Münchner Philharmoniker und Mitglied des Münchner Bläserquintetts. Winterberg wird ihm das Werk vorgeschlagen haben. Ob es zu einer Aufführung durch Gall gekommen ist, konnte bisher nicht ergründet werden.

1937

Nach Abschluss des Studiums an der Deutschen Akademie in Prag in den Fächern Komposition und Dirigieren arbeitete Winterberg einige Zeit als Korrepetitor und Kapellmeister an den Theatern in Brünn und Gablonz, bevor er sich als freischaffender Komponist und Theorielehrer wieder in Prag niederließ. Mitte der 1930er Jahre gründete er eine Familie mit der 1906 in Teplitz geborenen, renommierten Pianistin und Komponistin Maria Maschat. 1935 kam die gemeinsame Tochter Ruth zur Welt. Für materielle Sicherheit sorgte eine monatliche Apanage durch die florierende Textilfabrik seines Vaters. Diese Zeit war eine kompositorisch enorm fruchtbare: es entstanden die 1. Symphonie, das 1. Streichquartett, die Violinsonate (beide EDA 51), die erste Klaviersonate (EDA 54) – Winterberg erschloss sich auf sehr individuelle Weise die großen tradierten Formen. Experimentierte mit dem Quintett für Violine, 2 Klarinetten, Horn und Klavier und dem Liederzyklus "Dort und Hier" für Sopran und Klaviertrio aber auch mit unkonventionellen Besetzungen und Formaten. 1935/36 assoziierte er sich mit Viktor Ullmann, Walter Süßkind, Friederike Schwarz, Wilhelm M. Wesely und Karl Maria Pisarowitz zu einer losen Gruppe junger deutsch-böhmischer Komponisten. In einem im Dezember 1935 gemeinschaftlich veranstalteten Konzert in der Prager Urania stellte er seine Drei Lieder nach Gedichten von Franz Werfel vor. Der Komponist begleitete selbst am Klavier die Prager (1944 in Auschwitz ermordete) Sopranistin Marta Tamara Kolmanová, ein Ensemblemitglied der Prager Oper. Werfel war der bevorzugte Dichter Winterbergs. Aus den erhaltenen Liedkompositionen dieser Jahre wird ersichtlich, dass er sich zunächst mit Liedern auf eigene Texte an die Gattung des Kunstlieds heranarbeitete und sich erst an Werfels Lyrik wagte, als er sich ihr gewachsen fühlte. Der Zyklus "Dort und Hier" ist Abschluss und Höhepunkt von Winterbergs Beschäftigung mit Werfel, ein "Wurf", und eines der raren Werke überhaupt in dieser Besetzung. Ob Winterberg Werfel oder die anderen bedeutenden deutschsprachigen Literaten Prags persönlich kannte, ist nicht überliefert. Zwar wohnte er quasi um die Ecke des Café Arco in der Hybernergasse unweit des Hauptbahnhofs, in dem Kisch, Brod, Kafka, Werfel, Rilke und alle anderen verkehrten, aber Mitte der 1930er Jahre hatte dieses bereits seine Bedeutung als Treffpunkt der literarischen und künstlerischen, deutschsprachigen jüdischen Elite Prags eingebüßt.

"Dort und Hier", 1936 begonnen und im Januar 1937 vollendet, versammelt vier Gedichte Werfels aus unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Veröffentlichungen. Alle vier finden sich allerdings in einem vom Dichter selbst kuratierten, 1935 erschienenen Band, der Winterberg vorgelegt haben mag. Die Auswahl der Texte befremdet zunächst wegen ihrer scheinbaren Disparatheit und verblüfft wegen Werfels unkonventionellem Zugriff auf universelle Themen. In der Marien-Szene des ersten Liedes – eine Paraphrasierung der 'Flucht nach Ägypten', versetzt in eine trostlose Winterlandschaft – thematisiert Werfel die existenzialistische Erfahrung des Ausgeliefertseins. Das zweite und dritte handelt vom Übergang vom Diesseits ins Jenseits aus religiöser und erotischer Perspektive. Naiv rührend, frech-ironisch und eine Spur ketzerisch das eine, ekstatisch das andere, das dem Zyklus den Namen gab. Das Fallen des Schnees wiederum dient Werfel als Metapher für das scheinbare Chaos der Welt, hinter dem doch eine göttliche Ordnung waltet, und für die Vorstellung, dass der Mensch mit dem Tod aus seiner Individualität in den großen Schöpfungszusammenhang zurückkehrt. Winterberg nutzt den thematischen Anknüpfungspunkt im ersten Lied ("wohl besser wärs, es würde schnein") geschickt für eine zyklische Klammer hin zum letzten. Die ironisch-expressionistische, an bildmächtigen Neologismen reiche Sprache Werfels inspiriert ihn zu einer packenden, nuancen- und farbenreichen Musik, voller raffinierter tonmalerischer Umsetzungen: die winterstarre Natur im ersten Lied etwa durch fahle, statische Klänge oder das Krächzen der Krähen durch 'kratzige', con sordino zu spielende Volten der Geige. Im letzten Lied ist ihm das Wirbeln der Schneeflocken willkommener Anlass zur Demonstration atemberaubender polyrhythmischer Kunststücke von unvergleichlicher Wirkung, wie wir sie ähnlich erst wieder beim späten Ligeti sehen: nur von einem gemeinsamen Puls zusammengehalten, treiben die einzelnen Stimmen (inklusive der beiden pianistischen Hände) unabhängig vor sich hin, jede folgt ihrem eigenen metrischen Ordnungssystem – sinnfällige Umsetzung der Idee der Einheit in der Vielfalt.

1963

Winterbergs Erfolge in seiner ersten Münchner Zeit hielten nicht an. Die Anzahl wichtiger Aufführungen und Rundfunkübertragungen dünnte sich im Laufe der Jahre immer mehr aus. Mit dem Weggang Riegers aus München schloss sich dann die Tür zu den Philharmonikern, Jan Koetsier übernahm zwar noch die Uraufführung des 3. Klavierkonzerts 1970, brachte aber mit dem Orchester des Bayerischen Rundfunks als zweitem Mann neben Jochum kein einziges Werk Winterbergs zur Aufführung. Und Winterbergs Landsmann Rafael Kubelik, der 1961 Jochum ablöste, war an Winterbergs Musik nicht interessiert. Verbindungen zu anderen Orchestern wie dem Symphonie-Orchester Graunke in München, dem Stuttgarter Rundfunksinfonieorchester oder zu den Bamberger Symphonikern blieben sporadisch. Winterberg lebte in ständiger materieller Not. Von dem erbärmlichen Gehalt, das er als freier Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks verdiente, und von den wenigen Stunden am Konservatorium war kaum zu leben. Für Entschädigungen für seine erlittenen Entbehrungen an Leib und beruflichem Fortkommen während der Nazi-Okkupation Prags musste er jahrelang mit anwaltlicher Hilfe kämpfen. Dass eine gemäßigt avantgardistische Musik, wie er sie komponierte, von einer jungen Generation von Komponisten und Redakteuren links liegengelassen wurde, war seine zweite bittere Lebenserfahrung. Bereits 1956 schreibt er an den für die Künstlergilde Esslingen tätigen Heinrich Simbriger, er müsse die Arbeit an einer aktuellen Komposition abbrechen, da er kein Geld mehr für Notenpapier habe. Simbriger und die Künstlergilde wurden zu einem rettenden Anker, was Winterbergs Anerkennung als Komponist betrifft, aber auch finanziell. Dies hatte seinen Preis: zunehmende Absorbierung durch die Gemeinschaft der Heimatvertriebenen Sudetendeutschen, was durch Winterbergs 1968 geschlossene (vierte) Ehe mit der in Tetschen-Bodenbach (dem heutigen Děčín) geborene Malerin und Dichterin Luise Marie Pfeifer dann zusätzlich befördert wurde. Die verstörenden "sudetendeutschen" Komplikationen, zu denen es schließlich mit seinem Nachlass kam, können an anderer Stelle nachgelesen werden.2

Die 1963/64 entstandene Sudeten-Suite mit dem Untertitel "Erinnerungen an die Sudeten" muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Die Umstände ihrer Entstehung und ihrer Uraufführung verdeutlichen die bittere Ironie von Winterbergs Nachkriegsschicksal. Am 31. Mai 1963 wurde Winterberg – durch Simbriger vermittelt – von Bundesminister Hans Christoph Seebohm und Bundeskulturreferent Viktor Aschenbrenner mit dem Kulturpreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft ausgezeichnet. Seebohm, deutscher Verkehrsminister seit Gründung der Bundesrepublik, war Sprecher der Landsmannschaft seit 1956 und gehörte zu deren revisionistischer Linie. Nach dem Münchner Abkommen und dem Anschluss der sogenannten Sudetengebietes 1938 an das Deutsche Reich war er an der Arisierung jüdischer Unternehmen beteiligt. Aschenbrenner, Regierungsrat in der Hessischen Landesregierung und Vorsitzender des Kulturausschusses des Bundes des Vertriebenen, war 1937 der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins beigetreten und hatte während der Nazizeit eine Führungsposition als Gauhauptstellenleiter der NS-Organisation "Kraft durch Freude". Winterberg wurde also durch die Menschen ausgezeichnet, die maßgeblich für das Ende der tschechoslowakischen Republik und die Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung verantwortlich zeichneten.

Die Sudeten-Suite entstand Ende 1963, Anfang 1964, also nach der Verleihung des Kulturpreises und vor Verleihung eines zweiten "sudetendeutschen" Preises an Winterberg, dem Anerkennungspreis zum Johann-Wenzel-Stamitz Preis 1964 (der Hauptpreis ging in diesem Jahr an Günter Bialas und Heinz Tiessen). Im Umfeld von Hans Winterbergs rhythmisch und harmonisch hochkomplexen Werken der 1960er Jahre wirkt sie mit ihrer post-impressionistischen, leicht fasslichen Tonsprache zweifelsohne wie ein Fremdkörper. Es ist offensichtlich, dass das Werk als musikalische Grußadresse an Simbriger und die Oberen der Künstlergilde gedacht war. Es wurde dann auch in einem vom Adalbert-Stifter-Verein veranstalteten Konzert im Bayerischen Rundfunk am 15. Juni 1966 vom Louegk-Trio uraufgeführt (bestehend aus Günter Louegk, Klavier, und Gerhard Seitz, dem Konzertmeister und Walter Nothas, dem Solocellisten des Symphonieorchesters der Bayerischen Rundfunks). Unter den Ehrengästen: Hans-Christoph Seebohm. Wollte Winterberg, der Prager Jude, mit diesem Werk ein musikalisches Bekenntnis zum Sudeten-Deutschtum ablegen? Wohl kaum. Bezeichnenderweise trägt es eben nicht den Titel Sudetendeutsche Suite. Die drei Sätze spielen nicht an auf deutsche Kultur im ehemaligen "deutschen Osten", sondern auf landschaftliche Attraktionen, auf Demarkationspunkte vor allem des tschechoslowakischen Territoriums auf der Grenze nach Polen im Norden (Schneekoppe, Elbquellen) und zu Österreich und Deutschland, dem sogenannten Dreiländereck, im Süden (Plöckenstein). Es sind Orte, in denen Winterberg wanderte, in Zeiten, als seine tschechisch-deutsch-jüdische Identität als harmonischer Dreiklang lebbar war. Identitärer Wahnsinn verwandelte diesen Dreiklang in eine Dissonanz, mit der er seit der Verfolgung als Jude und dann als Exilant in der Bundesrepublik jonglieren musste. Es ist Programmmusik im besten Sinne in der Tradition von Smetanas Zyklus Mein Vaterland (Má Vlast), um ein komponiertes Erinnern prägender Landschaften, die für Winterberg nach seiner Übersiedlung nach München hinter dem Eisernen Vorhang unerreichbar wurden. Das sudetendeutsche Umfeld konnte darin ein "Bekenntnis" sehen, für ihn war es ein Eintauchen in das verlorene Paradies der Kindheit.

Frank Harders-Wuthenow

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1  Siehe den Einführungstext zu EDA 51 und den Werkkommentar von Michael Haas auf bgeschiedeoosey/com/Winterberg.
eda records | Kannegiesser, Maillard & Harders-Wuthenow GbR | Erkelenzdamm 63 | 10999 Berlin | Germany | info@eda-records.com