EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
V Igor Stravinsky – Octet for wind instruments [on streaming and online platforms only]
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EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École

 
I Jacques Ibert – Concerto pour violoncelle et instruments à vent

01 Pastorale EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
I Jacques Ibert – Concerto pour violoncelle et instruments à vent
01 Pastorale

02 Romance EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
I Jacques Ibert – Concerto pour violoncelle et instruments à vent
02 Romance

03 Gigue EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
I Jacques Ibert – Concerto pour violoncelle et instruments à vent
03 Gigue

II Marcel Mihalovici – Étude en deux parties pour piano concertant, bois, cuivres, célesta et batterie

04 Andantino EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
II Marcel Mihalovici – Étude en deux parties pour piano concertant, bois, cuivres, célesta et batterie
04 Andantino

05 Tempo giusto EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
II Marcel Mihalovici – Étude en deux parties pour piano concertant, bois, cuivres, célesta et batterie
05 Tempo giusto

III George Antheil – Concerto for Chamber Orchestra

06 Concerto for Chamber Orchestra EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
III George Antheil – Concerto for Chamber Orchestra
06 Concerto for Chamber Orchestra

IV Simon Laks – Concerto da camera pour piano, instruments à vent et batterie

07 Allegro non troppo EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
IV Simon Laks – Concerto da camera pour piano, instruments à vent et batterie
07 Allegro non troppo

08 Andantino EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
IV Simon Laks – Concerto da camera pour piano, instruments à vent et batterie
08 Andantino

09 Allegro assai EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
IV Simon Laks – Concerto da camera pour piano, instruments à vent et batterie
09 Allegro assai

V Igor Stravinsky – Octet for wind instruments [on streaming and online platforms only]

10 Sinfonia. Allegro Moderato EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
V Igor Stravinsky – Octet for wind instruments [on streaming and online platforms only]
10 Sinfonia. Allegro Moderato

11 Tema con variazioni EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
V Igor Stravinsky – Octet for wind instruments [on streaming and online platforms only]
11 Tema con variazioni

12 Finale EDA 48: Écoles de Paris – Paris pour École
V Igor Stravinsky – Octet for wind instruments [on streaming and online platforms only]
12 Finale

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Die ungekürzte Fassung des Einführungstextes, inkl. der Original-Zitate in Englisch und Französisch sowie aller Quellennachweise, finden Sie in der überhalb der Musikbeispiele verlinkten pdf-Datei.

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Écoles de Paris – Paris pour École

If you are lucky enough to have lived in Paris as a young man, then wherever you go for the rest of your life, it stays with you, for Paris is a moveable feast.

Ernest Hemingway

Der Begriff "École de Paris" im Sinne einer historisch und inhaltlich klar definierten Bezeichnung für ein kunstgeschichtliches Phänomen, nämlich eine große Gruppe von bildenden Künstlerinnen und Künstlern nicht französischer Herkunft, viele von ihnen osteuropäischer und jüdischer Abstammung, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der französichen Hauptstadt wirkten, findet sich erstmals in Roger Allards Besprechung des 34. "Salon des Indépendants" im Grand-Palais (Februar/März 1923) in der Revue universelle. Bemerkenswert an diesem Jahrgang der wichtigsten französischen Schau zeitgenössischer Kunst war der Verzicht auf jegliche nationale oder stilistische Einordnung der über viertausend präsentierten Werke – die Hängung erfolgte in alphabetischer Reihenfolge – und damit die Aufgabe jeglicher Zuordnung zu "Schulen", vor allem aber auf die Unterscheidung "nationaler", "ausländischer" bzw. "internationaler" Kunst. Der damit einhergehende Verzicht auf eine Priorisierung der französischen Kunstproduktion wurde von der konservativen, chauvinistisch bis xenophob und antisemitisch eingestellten französischen Kunstkritik umso mehr angeprangert, als zeitgleich eine durch den amerikanischen Sammler Albert C. Barnes in Philadelphia organisierte Ausstellung von sich reden machte, in der dem amerikanischen Publikum die neuesten Tendenzen der französischen Kunst nahegebracht werden sollten. Die bestand allerdings zu großen Teilen aus Werken jener als "École de Paris" bezeichneten Gruppe nicht-französischer aber in Paris lebender Künstler, allen voran des seit 1913 in Paris ansässigen Malers weißrussisch-jüdischer Abstammung Chaïm Soutine. André Warnauds Artikel "L'École de Paris", im Januar 1925 in der Zeitschrift Comoedia erschienen, galt lange als Geburtsstunde des Begriffs. Im Gegensatz zu Allard, der ihn polemisch verwendet zur Unterscheidung einer inferioren "barbarischen" von einer überlegegenen "echten französischen" Kunst, verwendet ihn Warnaud wertneutral als Instrument, um die Nationalität eines Künstlers als Kriterium der Beurteilung gegenüber der Bedeutung des Ortes, an dem Kunst entsteht, in den Hintergrund treten zu lassen.

Während Kunstwissenschaft und Museumsbetrieb das Phänomen der "École de Paris" in seinen ästhetischen, sozialen und kulturpolitischen Dimensionen in Publikationen und Ausstellungen inzwischen aufgearbeitet haben und Warnauds Blick auf ein entscheidendes Kapitel der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, das 1940 zu einem brutalen Ende kam,1 zur Selbstverständlichkeit geworden ist, tut sich die Musikwissenschaft, das Musikleben im allgemeinen, bis heute schwer, eine "École de Paris" in derselben Komplexität und Wirkungsmacht, wie sie für diesen Abschnitt der Kunstgeschichte gilt, als musikgeschichtliche Realität zu erkennen und zu würdigen. Problematischer noch: das Verharren im Denken in nationalen Schulen blendet ein substantielles musikalisches Kulturerbe aus, dessen Wesen transnationaler Art ist, das sich einer eindeutigen nationalen Zuschreibung widersetzt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich im Laufe der Zeit die Etikettierung einer kleinen Gruppe von befreundeten ausländischen Komponisten als "École de Paris" durchsetzte – Harsányi, Mihalovici, Martinů und Beck, denen später Tansman, Tcherepnin, teilweise auch Spitzmüller und Rieti assoziert wurden. Dadurch wurde eine Vielzahl von Komponistinnen und Komponisten aus dem Blickfeld verdrängt, die im Sinne der kunstgeschichtlichen Anwendung des Begriffs zu einer musikalischen "École de Paris" im erweiterten Sinne gehören. Aufgrund ihres Exilstatus gelten sie weder als Repräsentanten der französischen Musikkultur noch der ihrer Heimatländer und fallen damit ins Niemandsland der Kulturgeschichte.

Vorliegende Produktion nahm ihren Ausgang bei einem von diesen: Simon Laks. eda records widmet seinem Schaffen seit Jahren einen Schwerpunkt. Sein "Fall" dient uns als Anlass, den Begriff der "École de Paris" zu hinterfragen vor dem Hintertrund der enormen stilistische Vielfalt der unterschiedlichen Gruppierungen, die sich im Paris der 1920er Jahre formierten, ihrer freundschafllichen Verflechtungen und gegenseitigen Beeinflussungen zum Teil über die Epochenzäsur 1939–1945 hinaus.

Unser Titel "Écoles de Paris – Paris pour École" bezieht sich zum einen auf Federico Lazzaros hervorragende Studie "Écoles de Paris en Musique 1920-1950",2 die das Thema erstmals und in beeindruckender dokumentarischer und analytischer Gründlichkeit aufarbeitet, zum anderen auf die Ausstellung "Chagall, Modigliani, Soutine … Paris pour école, 1905–1940", die 2021 im Pariser Musée d'art et d'histoire du Judaïsme und 2022 im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen war ("Paris Magnétique").

Den äußeren Anlass für das Zustandekommen des Projektes – die Produktion und das damit verbundene Rundfunk-Konzert am 6. April 2021, unter Pandemie-Bedingungen aufgezeichnet – lieferte der 50. Todestag Igor Strawinskys. Die Auswahl der Werke – alle in Paris entstanden – folgte der von Laks' Concerto vorgegebenen Besetzung: Bläser, Schlagzeug und gegebenenfalls konzertierendes Soloinstrument. Den Interpreten der Aufnahme und den Koproduktionspartnern – das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin und Deutschlandfunk Kultur – sei an dieser Stelle aufs herzlichste für das Zustandekommen gedankt. Aufgrund der Überlänge des Programms entschlossen wir uns, Strawinskys Octet, ein Standardwerk des Bläserrepertoires, diskographisch bestens dokumentiert, auszukoppeln und ausschließlich als Online-Veröffentlichung zugänglich zu machen. Die fulminante Interpretation der Bläser des DSO ist auf allen Streamingplattformen verfügbar.

Es ist eine Ironie, dass ausgerechnet die "Schlachtrösser" dieser Produktion, Strawinskys Octet und Iberts Cellokonzert bei ihrer Uraufführung durchfielen und sich erst nach einiger Zeit im Konzertleben durchsetzen konnten. Im Octet wird eine radikale Stilwende in Strawinskys Schaffen manifest, die sich in unterschiedlicher Weise bereits in der Bläsersymphonie und im Pulcinella-Ballett abzeichnet. War der Rückgriff auf die Tonsprache des 18. Jahrhunderts durch das bei Pergolesi entlehnte Material in Pulcinella direkt vorgegeben, so formuliert Strawinsky mit dem Octet aus gänzlich eigener Inspiration einen neuen Stil, der, neben parallelen Richtungen in Deutschland, als "Néoclassicisme" zum prägenden Stil der 1920er und 1930er Jahre wird. Das Befremden, das das Werk bei seiner Uraufführung 1923 auslöst, beruhte auf dem Umstand, dass weder Publikum noch Kritik mit diesem "neuen" Strawinsky gerechnet hatten. Irritierend ist die Abkehr von der sehr unterschiedlichen, aber doch immer elektrisierenden Klangpracht der vor dem Ersten Weltkrieg in Paris uraufgeführten Ballette L'Oiseau de feu, Petruschka und Le Sacre du printemps, vom perkussiven Sog der erst wenige Monate zuvor, im Juli 1923 aus der Taufe gehobenen Noces. Vorbei ist es mit dem spätimpressionistischen, überbordenden Farbenrausch, den rhythmischen Urkräften heidnischer Rituale; stattdessen Nüchternheit, Distanz, Ironie, Herausstellung des Handwerks in der Anverwandlung barocker und klassischer Formmodelle und Kompositionstechniken – eine Art Neuer Sachlichkeit à la russe.

Jacques Ibert

Von allen unseren Komponisten vertritt Jacques Ibert den französischen Geist sicherlich am authentischsten. Er ist auch der unbestrittene Anführer unserer zeitgenössischen Schule … Jacques Iberts Kunst entzieht sich dem Urteil der Zeit, denn sie ist von der Form her im Wesentlichen klassisch.

Henri Dutilleux

Ist Strawinsky sicher der Komponist nicht französischer Herkunft, der von Paris aus den größten Einfluss auf die Musikgeschichte ausübt (nach Lully, Rossini, Chopin, Meyerbeer und Offenbach), so finden wir in Ibert einen der erfolgreichsten und – auch als Mensch – geschätztesten französischen Komponisten seiner Generation, der, wenn auch zu keiner der vielen Gruppierungen offiziell sich bekennend, die summa summarum so etwas wie die "Écoles de Paris" der Zwischenkriegszeit ausmachen, doch eine wichtige Rolle als Förderer und Vermittler spielt. Hatte sich Strawinsky Mitte der 1920er Jahre bereits mehrmals neu erfunden, so steht der um acht Jahre jüngere Ibert gerade erst am Beginn einer brillanten Laufbahn. Als Rom-Preisträger des Jahrgangs 1919 liegen vier sorglose Jahre in der Villa Medici hinter ihm, in denen neben dem hinreißenden Einakter Persée et Andromède aber eher Werke grüblerischen Charakters entstehen wie der Chant de Folie, Féerique und vor allem die Ballade de la Geôle de Reading nach Oscar Wilde. Im Cellokonzert, dem ersten nach der Rückkehr komponierten Werk, findet er zu ungetrübter Lebensfreude zurück.

In eine bukolische Landschaft des 18. Jahrhunderts scheint uns die pastorale Stimmung des ersten Satzes entführen zu wollen. Frei ausschwingende Linien in den Holzbläsern ergehen sich in diesseitigem G-Dur und weiteren "lichten" Kreuztonarten. Nach dem Durchgang des Solo-Cellos setzt ein zweites Thema an, ein "freudig" zu spielendes Hornsolo – Ankunft der Jäger? Wenn hier Jagd gemacht wird, dann sicher nicht auf Wild, sondern nach dem Glück des Lebens. Die großen Bögen weichen einem tänzerischen zwei-Sechzehntel-zwei-Achtel-Motiv, aus dem Nachsatz des Jagd-Themas abgeleitet, vom Cello übernommen und flugs umgedreht, wodurch seine Verwandtschaft mit dem ersten Thema offensichtlich wird. Sind wir in einer Überleitung, in einer Schlussgruppe, oder in einer Durchführung? Irgendwie scheint die Orientierung verloren gegangen zu sein. Während Oboe und Cello zur Reprise in der Haupttonart G ansetzen, wähnt sich das Fagott noch – oder schon? – in einem ganz anderen harmonischen Kontext, was peu à peu alle aus dem Konzept bringt. Eine herrliche, dramaturgisch legitimierte Verwendung der Polytonalität, neben Folklore- und Jazz-Anleihen eines der Hauptstilmittel des "Néoclassicisme", das Ibert nur situationsbedingt und gut reflektiert zum Einsatz bringt. Der zweite Satz, "Romance" betitelt, ist sich nicht so sicher, ob er nicht doch ein Scherzo sein möchte, oder zumindest ein Capriccio, denn kapriziös ist hier alles. Ein rhapsodisches, chromatisch abfallendes Motiv des Cellos, von der Trompete kommentiert, spricht von unerfüllter Sehnsucht, doch mutet der nervös-aufgeregte Charakter des Satzes mit seinem steten Wechsel karrikaturhafter "Erscheinungen" insgesamt wie eine nächtliche Karnevalsszenerie an. Der Mittelteil wird gänzlich von einer breit angelegten, durch ritornellhafte Bläsereinwürfe strukturierte Kadenz des Solocellos dominiert, die sich eine kurze Erinnerung an Saint-Saëns' Schwan nicht verkneifen kann. Die abschließende Gigue gibt sich nur im Titel barock, der frenetische 12/16-Wirbel, den Ibert hier entfesselt, evoziert eher die Ausgelassenheit einer italienischen Tarantella, wie denn das ganze Konzert, obschon in Paris und der Normandie komponiert, wie eine Reminiszenz an Iberts italienische Reisen anmutet. Eine Musik nach Bizet – so könnte sie Nietzsche vorgeschwebt haben mit seinem Diktum "il faut méditerraniser la musique". Gewidmet ist das Konzert, das im März 1926 mit der Cellistin Madeleine Monnier aus der Taufe gehoben wurde, dem Freund Roland-Manuel, einem der wichtigsten Musikkritiker der Zeit, Biograph und Vertrauter Ravels, als Ghost-Writer später Co-Autor von Strawinskys "Musikalischer Poetik", der, wie Ibert, zum engsten Umfeld der "Groupe des Six" gehörte. Wir werden ihm im Folgenden noch mehrmals begegnen.

Marcel Mihalovici

Aus Rumänien stammend, sieht Mihalovici Paris als seine Heimat an. In seiner Musik allerdings intoniert er Gesänge und entwickelt Rhythmen, deren Ursprünge sich in alten Zeiten und fernen Ländern verlieren. Und darin findet sich die wirkliche Bedeutung der 'École de Paris', zu deren herausragenden Vertretern Mihalovici gehört. Dieser Komponist (…) hat in der Pariser Atmosphäre einen eigenständigen Stil geschaffen. Dieser Stil ist vielleicht nicht französisch, aber er ist auch nicht rumänisch, und er konnte nur in Paris entstehen.

Tibor Harsányi

Mihalovici, 1898 in Bukarest geboren, geht trotz einer starken Prägung durch deutsche Kultur und Sprache in der Kindheit auf Anregung und mit Unterstützung von George Enescu 1919 nach Paris. Enescu erkennt die herausragende Begabung des von Debussy begeisterten Mihalovici und stattet ihn, da er für das Konservatorium bereits zu alt ist, mit einem Empfehlungsschreiben für Vincent d'Indy aus, den Direktor der Schola Cantorum, bei dem Mihalovici dann bis 1925 studiert. So findet sich Mihalovici in einem seltsamen Spagat zwischen den beiden Blöcken wieder, die das Pariser zeitgenössische Musikleben in den 1910er und 1920er Jahren bestimmen: den Aktivitäten der Société Nationale de Musique, der d'Indy vorsteht, und der von Ravel, Koechlin und Florent Schmitt – Enescus Studienkollegen bei Fauré – in Reaktion auf den konservativen Geist der Société Nationale 1910 gegründeten Société Musicale Indépendante (SMI). Mihalovici befreundet sich in Paris mit anderen rumänischen, in Paris ansässigen Künstlerinnen und Künstlern wie dem Bildhauer Constantin Brâncuși und den Schwestern Codreanu – Lizica, die Tänzerin, und Irina, die Bildhauerin, Schülerin Bourdelles und Assistentin Brâncușis. Im Atelier Bourdelles lernt er Giacometti kennen, aber auch die Bildhauerin Maja Stehlin, die spätere Frau Paul Sachers. Aus der Begegnung mit dem Schweizer Dirigenten und Mäzen 1936 beim legendären 14. Fest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) in Barcelona wird sich eine intensive, lebenslange Freundschaft entwickeln. In Zusammenarbeit mit Lizica Codreanu entstehen in den 1920er Jahren mehrere Tanztheaterprojekte. Mihalovici erlebt Aufführungen in Konzerten der SMI und der Société Nationale und wird von Walter Straram (alias Walther Marrast) gefördert, der einige seine Orchesterwerke in den "Concerts Straram" dirigiert. Gegen Ende der 1920er Jahre ist Mihalovici in der europäischen Musikszene etabliert, ab 1930 werden seine Werke bei den Festivals der IGNM programmiert.

Die Assoziierung Mihalovicis mit Harsányi, Beck und Martinů als einer "Groupe des Quatre", aus der sich die Idee einer "École de Paris" mit weiteren assoziierten ausländischen Komponisten entwickelt, steht in engem Zusammenhang mit den Aktivitäten des Verlegers Michel Dillard, der 1928 die Éditions de la Sirène übernimmt, ein 1904 gegründeter, der zeitgenössischen Musik verpflichteter Verlag, der neben Satie, Florent Schmitt und Strawinsky auch Werke der "Groupe des Six" verlegt, und der 1919 deren Manifest, Cocteaus Le Coq et l'Arlequin publiziert hatte. Dillard verfolgt möglicherweise die propagandistische Absicht, der "Groupe des Six", zehn Jahre nach ihrer Gründung, eine neue Sechser-Gruppe an die Seite zu stellen, die allerdings nicht mit den sechs später als "École de Paris" etikettierten Komponisten identisch ist. Vielmehr standen in dem ersten von Dillard am 27. April 1929 organisierten Konzert mit Komponisten seines Verlags neben den bereits genannten vier auch Werke von Jean Cartan und Maurice Jaubert auf dem Programm. Der Begriff "École de Paris", auf die Musik angewandt, ist erstmals im selben Jahr und im Zusammenhang mit Dillard und der Sirène zu lesen. Der Musikjournalist Arthur Hoérée verwendet ihn in der Dezemberausgabe 1929 der Revue musicale anlässlich der Besprechung eines von der Sirène herausgegebenen Liederzyklus von Alexandre Tansman: "La Sirène musicale setzt ihren Kreuzzug für die (…) junge Musik der 'École de Paris' fort. Damit ist die Plejade bemerkenswerter junger Talente gemeint, in der sich Franzosen und Ausländer tummeln, die Paris als Zentrum gewählt haben und an seinem Trend teilhaben, ohne ihren nationalen Charakter zu verlieren." Festzuhalten ist, dass der Begriff "École de Paris", hier, im Augenblick seiner Übernahme aus dem Kontext der bildenden Kunst, den Fokus auf Ort und Zeit legt ("Paris als Zentrum", "junge Musik"), ausländische und französische Komponistinnen und Komponisten impliziert, und – und das ist entscheidend – aus der Begegnung dieser Vielzahl unterschiedlicher Stimmen kein unterschiedsloses Stilgemisch entsteht.

Als die deutschen Truppen im Juni 1940 Paris besetzen, flüchtet der jüdisch-stämmige Mihalovici mit seiner Lebensgefährtin, der Pianistin Monique Haas und den Geschwistern Codreanu nach Cannes in die Zone libre. 1942 schließen sich Mihalovici und Haas dem "Comité de Front national de la musique" an, einer Widerstandsgruppe, die sich aus prominenten Protagonisten der französischen Musikszene zusammensetzt, die nach dem Krieg entscheidende Funktionen beim Aufbau des Musiklebens post-Vichy haben werden. Darunter Roger Desormière, Henry Barraud, Louis Durey, Georges Auric, Francis Poulenc, Max Rosenthal und Roland-Manuel, die Irina Codreanus Pariser Atelier für geheime Treffen nutzen. Max Rosenthal dirigiert in Paris nach Abzug der Deutschen und noch vor Kriegsende, im November 1944, die Uraufführung von Mihalovicis in den Kriegsjahren entstandener Symphonie pour les temps présents, die in den letzten Monaten der Besatzung, als der Aufenthalt in Cannes zu gefährlich wurde, in einem neuen Versteck, dem Haus des befreundeten Cellisten André Huvelin in Mont-Saint-Léger, vollendet werden konnte. 1949 widmet Mihalovici Huvelin seine Sonate für Cello solo op. 60 (eda 47, Adele Bitter, "crossroads").

Mihalovicis Position im französischen Musikleben konsolidiert sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Der mittlerweile Endvierziger arbeitet regelmäßig beim Rundfunk, wird als Professor an die Schola Cantorum berufen, ist Mitglied wichtiger Gremien und Jurys und wird mit zahlreichen nationalen Preisen geehrt. 1963 erfolgt seine Aufnahme in die Académie des Beaux-Arts am Institut de France. Daneben entwickelt sich eine parallele, bedeutende Karriere im deutschen Sprachraum. In der Schweiz wird neben Paul Sacher auch Erich Schmid zum Förderer, in Deutschland sind es u.a. die Dirigenten Ferdinand Leitner, Hans Rosbaud und Heinz Zeebe, die sich für ihn einsetzen. Aus einer erfolgreichen Aufführung der Toccata op. 44 für Klavier und Orchester mit Monique Haas als Solistin und dem Orchester des Südwestfunks Baden-Baden unter Rosbaud resultiert der Kontakt zu Heinrich Strobel, der bei Mihalovici ein Werk für die Donaueschinger Musiktage 1951 in Auftrag gibt. Ein Stück für fünf bis sechs Bläser, schlägt Mihalovici Strobel vor, und fragt diesem in einem Brief vom November 1950, ob vielleicht auch ein Klavier hinzugezogen werden könne. Aus dieser Grundidee entwickelt sich im Laufe der nächsten Monate ein regelrechtes Konzert für Klavier mit großer Bläser- und Schlagzeugbesetzung, das am 6. Oktober 1951 in Donaueschingen unter Rosbauds Leitung mit Monique Haas uraufgeführt wird. Mihalovici gibt dem Strobel gewidmeten Werk den lakonischen Titel Étude en deux parties. Ob er mit diesem Understatement die Tatsache herunterspielen will, dass er die Dimensionen des Auftrags gesprengt hat, oder ob er in dem Werk tatsächlich nur eine "Studie" sieht? Allerdings ist der Begriff bei ihm so wenig zu unterschätzen wie bei Chopin oder Debussy. Die Idee des Erforschens und Ergründens, den die Étude impliziert, ist ein wichtiger Aspekt in Mihalovicis kompositorischer Praxis der Auslotung des Potentials von musikalischem Material. Und so führt uns die Étude auch direkt zu einem anderen zentralen pianistischen Werk des Komponisten, den 1941 im "Exil im Exil" in Cannes und ebenfalls Monique Haas in die Finger geschriebenen Ricercari für Klavier solo. Der zweite Teil der Étude greift die rhythmisch-thematische Grundidee der 8. Variation ("Allegretto capriccioso, ma molto ritmato") dieses Zyklus auf, der sich in die Tradition der in der Renaissance und im Frühbarock beliebten Gattung des Ricercars stellt, das seine Namensgebung dem italienischen "ricercare", suchen, verdankt. Auch wenn die Étude en deux parties den Solisten vor horrende pianistische Herausforderungen stellt, steht die instrumentale Virtuosität keineswegs im Vordergrund. Gesucht wird vielmehr nach Balance und innerem Zusammenhalt kontrastierender kompositorischer Ausdrucksformen. Der erste Teil, Andantino, im Charakter eines ruhig fließenden Sicilianos, etabliert zu Beginn ein asymmetrisch gebautes, 20-töniges Thema, das wie ein genetischer Code relevante musikalische Motive bzw. "Bausteine" vorstellt, wie wir sie in ähnlicher Weise von Bartók kennen: die Ausfüllung einer kleinen Terz mittels "chromatischer Rückwendung" (analog der "vertauschten" Chromatik des B-A-C-H-Themas), gefolgt von einer diatonisch absteigenden Linie, Aufschwung über die große Septime, nochmalige chromatische Rückwendung, Kadenzformel. Alles in diesem ersten Teil geschieht behutsam: die Melodik entwickelt sich in weit gespannten Bögen, der Tonraum größerer Intervallschritte wird sukzessive chromatisch ausgefüllt, zwischen vollständigen Erscheinungsformen des Themas stehen variationsartige Abschnitte improvisatorischen Charakters, in denen thematisches Material durchgeführt und zunehmend auch diminuiert wird. Frühbarocke Praxis fusioniert hier mit Traditionen rumänischer Folklore, wie wir sie auch von Mihalovicis großem Vorbild Enescu kennen. Weich intonierte, mild dissonierende fünf- bis siebentönige Akkordgebilde geben diesen kontrapunktisch verwobenen Girlanden eine harmonische Grundierung.

Der zweite Teil, Tempo giusto, verhält sich in jeder Hinsicht komplementär zum ersten. Dessen angestaute Energie scheint zu explodieren und elementare Urkräfte freizusetzen. Das lyrisch introvertierte Legato schlägt um in ein extrovertiertes Staccato, eleganter Zurückhaltung folgt wilde Entfesselung. Das archaisierende Melos, das Mihalovici hier intoniert und die rhythmische Energie, die er entfacht, scheinen nicht nur "alten Zeiten und fernen Ländern" zu entstammen, sondern auch einer Kultur, die noch mit den chtonischen Kräften der Erde verbunden ist. Statt mit konventionellen Themen arbeitet Mihalovici mit Modulen, rhythmisch, melodisch und harmonisch kontrastierenden "Gestalten", die wie Elemente eines dramatischen Mobiles in Zeit und Raum interagieren. Einem scharf punktierten ersten Modul, der 8. Variation der Ricercari entnommen, folgt ein akkordisches Gebilde in fächerförmiger Spreizung, das Mihalovici bereits im ersten Abschnitt des ersten Teils kurz aufkeimen ließ. Beide reagieren aufeinander und entfalten sich. Ein weiteres Modul schließt sich an, dessen Keim ebenfalls dem 8. Ricercar entstammt, eine absteigende Tonleiter in Ganzton-Halbtonfolge (Messiaens "2. Modus") markant in der Tuba, die von Akkorden in Trompeten und Posaunen gerahmt wird, deren Dauern sich verkürzen und schließlich selbst Initiale zu einem scharf profilierten rhythmischen Mini-Motiv werden. Nachdem dieses exponierte Material eine erste Durchführung erlebt hat, beginnt ein neuer Abschnitt mit einer berückend schönen, "unendlichen" Melodie, zunächst in der Klarinette intoniert, dann vom Soloklavier fortgeführt, mit der uns Mihalovici die Essenz der Folklore seiner Heimat schenkt. Beeindruckend, wie er die Gravitationsfelder der Zentraltöne verschiebt, zwischen den Spannungsräumen der Strebetöne Ambivalenzen schafft, den sich immer weiter nach oben arbeitenden Spitzentönen der Melodie Glanz verleiht, durch subtile Synkopierungen jegliche metrische Gebundenheit aufhebt. Hier schafft ein Geist, dem es gelingt, das Melos für die zeitgenössische Musik aus dem sterilen Antagonismus von Tonalität versus Atonalität zu befreien. Wie ein Peitschenknall reißt uns das Motiv des Anfangs aus der Traumverlorenheit dieses Abschnitts, doch nach einer kurzen Reprise des Eröffnungsteils erfolgt schon ein zweiter Durchgang der Kantilene, diesmal raffiniert kanonisch geführt zwischen Klavier und Trompete. Ein atemberaubender Effekt, der später, vor der Coda, durch die Kombination von Klavier und Celesta ins Magische gesteigert wird. Diesem ersten Couplet stellt Mihalovici dann im weiteren Verlauf dieses Sonaten-Rondos ein zweites entgegen, das uns wieder nach Rumänien zu entführen scheint, diesmal allerdings zu einer handfesten Tanzszene. Galt es in der reich ornamentierten Lineatur des ersten Couplets jegliches Gefühl für Taktschwerpunkte aufzuheben, so geht uns diese rhythmisch und metrisch klar strukturierte neue Melodie im schnellen 3/8 Takt sofort in die Beine; der kreiselartigen Umspielung des Zentraltons e, mit variabler zweiter Stufe (f/fis), ist der Taumel förmlich einkomponiert. Der Elan vital, den dieser Tanz entfaltet, infiziert im weiteren Verlauf das gesamte Material, bis die schier unbändige Energie sich in immer neuen Steigerungswellen schließlich in einer eine großangelegten Apotheose entlädt.

George Antheil

Paris wird niemals, darf niemals untergehen. Paris sieht nur zu, wie die Kulturen über die Stadt und an ihr vorbei rollen. Sie wird auf ewig die Hauptstadt der Kunst bleiben. Doch Europa, das Europa meiner Jugend – damit ist es für lange Zeit aus. Also hinein in die letzten Orgien vor der Flut.

George Antheil

"Wir kamen am 13. Juni 1923 in Paris an. Ich erinnere mich des Datums, weil wir es so manches Jahr danach als Jahrestag feierten." Es ist der Tag der Uraufführung von Strawinskys Ballett Les Noces. Antheil und seine Frau Böski Markus waren von Strawinsky, mit dem sich Antheil in Berlin angefreundet hatte, zu dem Ereignis eingeladen worden, und Antheil nimmt dies zum Anlass, seinen Lebensmittelpunkt für die nächsten 10 Jahre nach Paris zu verlegen. In seinen Memoiren beschreibt er den postiven Schock, den er und Böski bei diesem Kulissenwechsel erleben: "Wir verglichen Paris mit Berlin. Es war wie der Unterschied zwischen schwarzer Nacht und grünem, zärtlichem Morgen!" Antheil, geboren am 8. Juli 1900 in Trenton, New Jersey, beginnt im Alter von sechs Jahren mit dem Klavierspielen und verfügt früh über eine stupende pianistische Technik. Nach Abschluss seines Kompositionsstudiums bei Ernest Bloch in New York bricht er im Mai 1922 nach Europa auf, das er – wie er seiner Mäzenin Mary Louise Curtis Bok verkündet – ganz unbescheiden als "enfant terrible" erobern wolle, "berühmt und berüchtigt … als ein neuer ultramoderner Pianist-Komponist". Nach einem ersten Konzert in der Londoner Wigmore Hall – "ich habe London nicht erobert, ich habe es buchstäblich in Brand gesetzt" – besucht er das Festival für zeitgenössische Musik in Donaueschingen und bezieht Wohnung in Berlin. Als Kind deutscher Auswanderer spricht er fließend Deutsch – polnische Wurzeln, die er in seinen 1945 verfassten Memoiren Bad Boy of Music anführt, gehören wohl, wie so manches in dieser Lebens-Erzählung, in den Bereich der Dichtung. Kurz vor seiner Übersiedlung nach Europa hat Antheil eine Reihe von Träumen, die ihn zu einer vollkommen neuartigen Musik inspirieren, die er angeblich in einer Art tranceartigem Zustand notiert, und in deren apokalyptischen Varianten er später eine Prophetie der Materialschlachten des kommenden Zweiten Weltkriegs sieht. Wie ein Ragtime auf Speed klingt die erste dieser Traum-Kompositionen, die Airplane Sonata, der in Berlin weitere "Skandalsonaten" folgen, mit denen Antheil in den europäischen Konzertsälen Furore macht: Jazz-Sonata, Sonata sauvage, Tod der Maschinen, alle nur wenige Minuten lang. Zu letzterer notiert er: "Ungeheure Mengen toter und sterbender Maschinen eines entsetzlichen Zukunftskrieges lagen zerstört, umgeworfen, zu Fetzen zersprengt auf den Schlachtfeld eines sintfluthaften Untergangs." Hans Heinz Stuckenschmidt, Antheils wichtigster Unterstützer in Deutschland, auf dessen Betreiben Antheil im Februar 1923 Mitglied der November-Gruppe in Berlin wird, beschreibt Antheils Performance: "So hatte ich noch nie Klavierspielen gehört. Es war eine Synthese von Raserei und Präzision, die über alle konventionelle Virtuosität hinausging. Eine Maschine schien über die Klaviatur zu fahren. Rhythmen von unglaublicher Schwierigkeit und Kompliziertheit wurden vermählt. Dynamik und Zeitmaße lebten in Extremen. Der Erfolg war superlativisch." George und Böski finden eine Wohnung direkt über Sylvia Beachs legendärem Buchladen Shakespeare & Company, dem Treffpunkt der von Gertrude Stein als "Lost Generation" etikettierten, vor Rezession, Prohibition und politischem Obskurantismus nach Paris entflohenen literarischen Elite der USA, aber auch zahlreicher englischer Autoren. Zu Antheils Freundes- und Bekanntenkreis gehören neben Ezra Pound, Ernest Hemingway, T. S. Eliot, Ford Madox Ford und Wyndham Lewis auch ein weiterer Habitué der Buchhandlung, James Joyce, dessen Ulysses Sylvia Beach im Jahr zuvor herausgegeben hatte, neben Pound einer der wichtigsten Fürsprecher Antheils in Paris. Antheil sieht sich unter enormem Erfolgsdruck. Das Pariser Establishment lechzt nach Skandalen, und Antheil hat das Potential, solche in Serie zu produzieren. In seinem ersten öffentlichen Klavierrecital am 4. Oktober 2023 im Théâtre des Champs-Elysées als Präludium zur Saisoneröffnung der Ballets Suédois, in dem er seine ikonoklastischen Sonaten zum Besten gibt, kommt es dann auch zu einem ähnlichen Aufruhr wie ziemlich genau 10 Jahre zuvor im selben Saal bei der Uraufführung von Strawinskys Sacre du printemps mit den Ballets Russes. Antheil ist der Mann der Stunde. In seiner Musik, die in ihrer Perkussivität und Härte weit über Bartóks und Strawinskys "Barbarismen" hinausgeht, scheint sich der Futurismus, mit einiger zeitlicher Verzögerung zwar, erstmals in ernstzunehmender Weise in der zeitgenössischen Musik zu manifestieren. Antheil etikettiert sich selbst als Futurist, weil ihm "gewisse Grundprinzipien der inzwischen überholten italienischen Futuristen enorm sympathisch waren". Mit deren Habitus identifiziert sich Antheil, der mit seinen 22 Jahren erstaunlich gut Bescheid weiß über die Strömungen der künstlerischen und literarischen Avantgarden Europas, hauptsächlich, um sich von den aktuellen Moden im Fahrwasser Debussys, Schönbergs und Strawinskys zu distanzieren. Scheinbar folgerichtig arbeitet Antheil bei seinem Hauptwerk der Pariser Jahre, dem Ballet mécanique, mit Fernand Léger zusammen, dem maschinenbegeisterten Protagonisten jener "herrlich männlichen, logischen Epoche", die aus dem "impressionistischen Nebel" und der "impressionistischen Weichheit entstanden ist". Antheil wird aber auch vom protofaschistischen, dem Futurismus nahestehenden rechten Lager vereinnahmt. Neben Pound, der 1924 ein apologetisches Buch über Antheil veröffentlicht, Violinsonaten bei ihm für seine Geliebte, die amerikanische Geigerin Olga Rudge in Auftrag gibt und Konzerte für ihn organisiert, begeistert sich auch Jacques Benoist-Méchin für Antheils Maschinen-Musik. Er ist Widmungsträger der ersten Fassung des Ballet mécanique und wirkt bei der offiziellen Uraufführung in der Salle Pleyel 1926 als Pianist mit. "Die Musik des Ballet mécanique bewegte ihn seltsam stark", erinnert sich Antheil 1945, "und rührte etwas Verborgenes und vielleicht Entsetzliches in ihm auf." Pound wie Benoist-Méchin – später eine Schlüsselfigur des Vichy-Régimes und glühender Hitler-Anhänger – lösen sich von Antheil, als dieser nach dem Ballet mécanique eine stilistische Kehrtwende vollzieht. Er war seiner "Traummusik" so nahegekommen, wie es ihm möglich schien, damit war für ihn die kompositorische Herausforderung bewältigt, eine Wiederholung müßig. Antheil, durch den sich wie durch ein Medium der Zeitgeist zu kanalisieren scheint, erspürt mit dem "Entsetzlichen", das seine Musik aufzurühren in der Lage ist, auch das dämonische Potential einer Maschinenwelt, die nicht mehr zum Wohle und Fortschritt der Menschheit, sondern zu ihrer Zerstörung eingesetzt wird. Seine politische Haltung indes ist eindeutig: zurück in Amerika engagiert er sich in der 1936 gegründeten Hollywood Anti-Nazi League. Zusammen mit der aus Österreich emigrierten Filmschauspielerin Hedy Lamarr entwickelt er während des Zweiten Weltkriegs ein auf der Idee des Frequenz-Sprungs basierendes Verschlüsselungsverfahren für die Funksteuerung von Torpedos. Er leitet es aus der Lochstreifen-Technologie für die Präparierung der Pianola-Rollen ab, die er in Paris von der Klavierbaufirma Pleyel für sein Ballet mécanique herstellen ließ.

Hatte Aaron Copland seinen Landsmann 1926 noch neidlos als größte Begabung der jungen amerikanischen Musik gepriesen, so beginnt Antheils Stern bereits mit der Uraufführung des 2. Klavierkonzerts 1927 in Paris und dem Fiasko der amerikanischen Erstaufführung des Ballet mécanique in der Carnegie Hall im selben Jahr wieder zu sinken. Der mediale Hype um Antheils bilderstürmerische Attitüde nützt seinem schnellen Durchbruch, schadet ihm aber nachhaltig, da er die mit den Klaviersonaten, den Violinsonaten für Olga Rudge und dem Ballet mécanique aufgebaute Erwartungshaltung in der Folge nicht mehr befriedigt. Er wird als Strawinsky-Epigone abgestempelt. Im Einschwenken auf die Linie des Neoklassizismus sehen die Kritiker ein Versiegen seiner Begabung. Die Vielfalt und Komplexität seiner kompositorischen Ansätze wird im feuilletonistisch beschränkten Blick auf ihren Sensationsgehalt ignoriert. Was an Antheil aber fasziniert, ist gerade die Unbekümmertheit, mit der er die radikalsten Ideen in Literatur, Theater und bildender Kunst, die sich im Paris der 1920er Jahre fokussieren, im Material seiner Musik reflektiert. Den Einfluss des Kubismus auf sein "time-space"-Konzept hat er selbst konstatiert. Seine Collage-Technik, sein respektloses wie witziges Jonglieren mit musikalischen "objets trouvés" sind direkte Umsetzungen von Strategien des Dada- und Surrealismus.

Das 1932 entstandene Concerto for chamber orchestra nimmt eine besondere Stellung in Antheils Oeuvre ein. Es ist sein bis dato geschlossenstes, stilistisch und formal ausgeglichenstes Werk. Unter Verzicht auf alle Provokationen und Manierismen bringt es zur Vollendung, woran Antheil auf der Suche nach einer neuen Zeit-Ordnung und Form-Gestaltung in den 1920er Jahren gearbeitet hat. Die Absurditäten und geschmacklichen Fragwürdigkeiten seines Meta-Klassizismus, mit dem er den französischen Neoklassizismus zu überwinden (oder provozieren) gedachte – etwa im 2. Streichquartett von 1927 – sind abgelegt. Die Berufung auf das neue Idol Beethoven ist spürbar nur noch in stark sublimierter Weise in der Beschränkung auf elementarste motivische und rhythmische Bausteine, im Zurücktreten der Farbe gegenüber der Kontur – Antheil wählt ein homogenes Bläserensemble, in der Symphony for five instruments von 1923 mischt er noch Bläser mit einer Bratsche –, in einer von der barocken Polyphonie gänzlich emanzipierten Kontrapunktik, und in der Prozesshaftigkeit, die im Verlauf der drei zyklisch verschränkten Abschnitte zunehmend manifest wird. Auf der anderen Seite erfüllt sich hier, mehr als in anderen vorausgehenden Werken Antheils, die Vorstellung von Musik als einer in die vierte Dimension projizierten Skulptur. Schon 1922 formuliert er in einem Brief an seine Mäzenin: "Wir sollten unseren Sinn für Formen und Zeiträume eher durch monatelanges Studium der Skulpturen von Brâncuși oder Lipchitz geformt finden als durch die auf ihre Weise so wunderbare Architektur, die Debussys Musik eine Vollkommenheit verlieh, die selten von einem Meister erreicht wurde."

Die Skulptur, die Antheil vor uns entfaltet bzw. deren Ausformung wir aus immer neuen Perspektiven miterleben, basiert auf einfachsten musikalischen Elementen, die zu scharf profilierten 'Gestalten' montiert werden. Mit dem Start im schnellen 6/8-Metrum werden wir in einen Ereignis-Fluss geworfen, dessen eigentlicher Beginn, wie nach einem Filmschnitt, längst stattgefunden haben könnte. Eine einfache Floskel in der Trompete präsentiert sich als Ur-Motiv: ein c, das zweimal mit oberer und unterer diatonischer Nebennote umspielt wird. Klarinette und Fagott begleiten sonatinenhaft mit Dreiklangsbrechungen, bitonal, wobei die jeweils obere Note in der Klarinettenfigur die Flötenstimme verdoppelt, eine Augmentation des Trompetenmotivs, die Umspielung von h durch seinen oberen und unteren Leitton. Der dritte Takt bringt eine doppelte "Mannheimer Rakete", einen aufsteigenden D-Dur Akkord in Achteln im Fagott und einen verminderten Septnonakkord auf A in beschleunigten Sechzehnteln in der Flöte. Beide werden immer wieder an Schnittstellen des Stückes als Signal eingesetzt. Takt 4 führt eine chromatische Seufzerfigur ein, in T. 5-6 vollführt die Flöte einen melodischen Sturz, der durch das Fagott in Gegenbewegung konterkariert wird, beide Stimmen gleichen den Salto durch Tonleitern in Gegenbewegung wieder aus. In T. 8 beginnt Antheil das hemiolische Spiel mit der Umakzentuierung von ternären in binäre Achtelgruppierungen, usw. Antheils "Skulptur" entwickelt sich über die ersten 29 Takte durch Zusammenfügung solcher kleiner und kleinster Bausteine, die alle durch das Prinzip von Antagonismus und Synthese aufeinander bezogen sind. Im weiteren Verlauf wird sie durch ein virtuoses Spiel mit diesen Bausteinen "modelliert". Es gibt Stauchungen, Dehnungen, Diminutionen, Schnitte, Schichtungen, Hinzufügungen von kontrapunktischen Begleitstimmen, die sich verselbständigen können und umgekehrt Erfindungen scheinbar neuen motivisch-thematischen Materials, das sich später als latente Nebenstimme von bereits eingeführtem Melos entpuppt. Formale Prinzipien der klassischen Sonatenform wie Exposition, Überleitung, Durchführung, Reprise, Schlussgruppe etc. scheinen immer wieder durch, ohne der strukturellen Hierarchie des historischen Modells zu folgen. Neobarocke Attitüde zeigt der zweite Abschnitt, Larghetto espressivo überschrieben, mit seinem mehrfach wiederholten Sarabanden-Thema, das sukzessive von den geballten Klangmassen des Tutti über einem "walking bass" verdrängt wird, bevor das melancholische "Seiten-Thema" aus dem ersten Abschnitt diesen langsamen Mittelteil beschließt. Antheil knüpft zunächst wörtlich an den Beginn des ersten Abschnitts an, als ob es sich weniger um einen dritten Satz als um eine Reprise handeln würde. Genial werden nun Elemente des ersten und zweiten Abschnitts antithetisch miteinander konfrontiert und ineinander montiert. Die daraus resultierende Spannung, die Antheil durch die "Nervosität" der zunehmend komplex diminuierten inneren Linien steigert, entlädt sich schließlich in einer hymnischen Apotheose, bevor der Satz mit der Reminiszenz an das Ur-Motiv ausklingt.

Simon Laks

Man hat manchmal den Eindruck, als ob der polnische Geist das Pariser Exil braucht, um sich entfalten zu können.

Alexandre Tansman

Wie fatal die enge Fassung des Begriffes "École de Paris" für die Zeit zwischen den Weltkriegen ist, seine Reduzierung auf nur eine gute Handvoll Komponisten unterschiedlicher europäischer Provenienz, zeigt sich besonders angesichts der vollkommenen Ausblendung einer Gruppe von Pariser Exil-Musikschaffenden aus dem Diskurs: die "Association des jeunes musiciens polonais", die in ihrer Blütezeit Anfang der 1930er Jahre etwa 150 aktive Mitglieder zählt, die Crème de la Crème des zeitgenössischen polnischen Musiklebens. 1926 von Szymanowskis Schüler Piotr Perkowski gegründet, kommt dieser Vereinigung nicht nur wegen ihrer Größe eine besondere musikhistorische Bedeutung zu, sondern auch, weil sie im Gegensatz zu allen anderen Gruppierungen im Paris der Zwischenkriegszeit eine echte Struktur hatte, mit juristischem Sitz in der Salle Pleyel. Während der Großteil der in Paris ansässigen jungen Komponistinnen und Komponisten auf der ständigen Suche nach Aufführungsmöglichkeiten ist, besitzen die Polen den unschätzbaren Vorteil, in der Salle Pleyel nicht nur über einen kleinen Konzertsaal zu verfügen, sondern auch über einen offiziellen Ort für Versammlungen und ein eigenes Büro.

Den Anstoß für diese historische vermutlich einmalige Konzentration von Musikschaffenden einer Nation in einer ausländischen Kulturmetropole gab Karol Szymanowski, der es für notwendig erachtete, dass sich die polnische Musik nach der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität Polens 1918 vom deutschen Einfluss (Wagner, Strauss) befreien müsse, um zu einer eigenständigen nationalen Musikkultur auf Weltniveau gelangen zu können.

Simon Laks absolviert nach Abschluss eines Kompositions- und Dirigierstudium in Warschau ein Aufbaustudium am Pariser Conservatoire. Seine Karriere beginnt vielversprechend. Durch die Aktivitäten der Association, in der er sofort nach ihrer Gründung administrative Funktionen übernimmt, entstehen Kontakte zu international renommierten Interpreten. Sein 2. Streichquartett ist im Repertoire des Quatuor Roth – vier ungarische Musiker, die eine wichtige Rolle im Zirkel der "Écoles de Paris" spielen und 1939 gemeinsam ins amerikanische Exil gehen. Für zwei der führenden Cellisten der Zeit, Maurice Maréchal und Gérard Hekking, entstehen die Cellosonate und die Trois pièces de concert. Die Verflechtungen zwischen der Association, den Protagonisten der Groupe des Six und allen anderen wichtigen "Playern" der Pariser Szene sind eng. Bei einem Kompositionswettbewerb, den die Association 1927 durchführt, sind nur Polen zugelassen, die Jury ist mit Maurice Ravel, Albert Roussel, Florent Schmitt und Arthur Honegger hochkarätig und ausschließlich französisch besetzt. Laks wird mit einem Sonderpreis für seinen Blues symphonique ausgezeichnet, der im Krieg verlorengeht, wie auch eine Reihe von Liedern und kammermusikalischen Werken, darunter seine beiden ersten Streichquartette.

Nach der Kapitulation Frankreichs wird Laks aufgrund seiner jüdischen Abstammung festgenommen, interniert und im Juli 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Er überlebt als Geiger und später Leiter der Männer-Kapelle von Birkenau. Nach Kriegsende kehrt er zurück nach Paris. Er legt Zeugnis ab: in einem Buch über die Rolle der Musik in Auschwitz (1948/1979), später als Zeuge in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen. In vielen der nach dem Krieg entstehenden Kompositionen finden sich, mehr oder weniger ausgesprochen, Spuren der Auseinandersetzung mit dem Erlebten und dem Überleben. Um 1960 erst kehrt Laks für ein paar Jahre zu einer Art kompositorischer Normalität zurück. Höhepunkte dieser von Bestätigung und Schaffensfreude gekennzeichneten Phase sind zweifellos der Erste Preis für sein 4. Streichquartett beim Streichquartett-Wettbewerb des Quatuor de Liège 1962 unter der Schirmherrschaft von Königin Elisabeth und der Große Preis für sein Concerto da camera für 9 Bläser, Schlagzeug und Klavier beim Internationalen Kompositionswettbewerb von Divonne-les-Bains 1964, das seine Uraufführung am 28. Oktober 1963 in der Pariser Salle Gaveau im Rahmen des Finalistenkonzerts erlebt. Den Juryvorsitz hat Louis Aubert, Schüler Faurés, Uraufführungsinterpret und Widmungsträger von Ravels Valses nobles et sentimentales, ein Vertreter der "alten Schule", der mit dem Votum für Laks sicher auch ein Statement gegen die aktuelle Avantgarde abgibt. So interpretiert es jedenfalls Henri Jaton, der Musikkritiker der Tribune de Lausanne, der in seiner Besprechung der Aufführung des Werkes im Rahmen der Preisverleihung am 27. Juni 1964 in Divonne les Bains konstatiert: "Louis Aubert, oder zumindest diejenigen seiner Kollegen, die vielleicht die Mehrheit für die Entscheidung mit ihm gebildet haben, bewiesen große Unabhängigkeit. Es besteht kein Zweifel, dass die Ehrenplätze in dieser Art von Wettbewerb [normalerweise] der Avantgarde vorbehalten sind, wobei die zu Wort kommenden Orakel nichts mehr fürchten, als als 'Gestrige' zu gelten. Simon Laks, der neue Preisträger von Divonne, dachte jedoch nicht daran, die Bourgeoisie zu verblüffen und hat kein fünfbeiniges Kalb3 zur Welt gebracht. (…) Vom Divonner Publikum stürmisch gefeiert, konnte er sich glücklicherweise davon überzeugen, dass Musik heutzutage noch zu lächeln und zu bezaubern vermag."

Laks komponiert mit seinem Concerto da camera nicht nur eine "Summe" des Neoklassizismus – dominierender Stil der für Laks prägenden Epoche der 1920er und 1930er Jahre in Paris –, sondern tatsächlich auch ein Manifest für eine Musik, deren Syntax und Grammatik mit den Hörerfahrungen eines musikalisch gebildeten Publikums korrespondiert. Nicht nur die dreisätzige Anlage – schneller, langsamer, schneller Satz – geht zurück auf das klassische Solokonzert, auch die einzelnen Sätze nehmen Bezug auf die in der Wiener Klassik etablierten Modelle Sonatenhauptsatz, Lied, Sonatenrondo. Der Rekurs reicht bis tief in die musikalische Mikrostruktur, vom Aufbau der Themen bis hin zur Verwendung typischer, bereits im Barock formulierter satztechnischer "Modelle". Besonders hinreißend das virtuose Hantieren mit diesen Modellen im letzten Satz, dessen konstituierendes thematisches Material auf dem "Pachelbel-Bass" (Quarte abwärts, Sekunde aufwärts, Quarte abwärts etc.) basiert und der absteigenden Tonleiter in der Melodie, deren Fundament er bildet. Ein Lächeln kann man sich in der Tat nicht verkneifen bei dem witzigen "Streit", den Laks kompositorisch vom Zaun bricht, wenn er das Klavier auf die Dur-Formel des Pachelbel-Motivs im Ensemble hartnäckig mit dessen Moll-Variante antworten lässt. Und dieses Spiel in der Reprise natürlich umdreht. Das ist musikalische Rhetorik vom Feinsten.

In diesem dritten Satz des Concerto zitiert Laks aus seiner 1936 komponierten, Szymanowski gewidmeten Suite polonaise – es handelt sich um eine polnische Volksliedmelodie. Damit spannt Laks einen Bogen zur Vorkriegszeit: mit der Suite polonaise für Violine und Klavier war er 1937 für die polnische Sektion beim Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik vertreten – neben seinen Erfolgen als Komponist für den polnischen Tonfilm eine Meilenstein auf dem Weg in die internationale Musikszene. Damit wiederholt er in einer späteren, kompositorisch fruchtbaren Phase seines Lebens auch sein Bekenntnis zur wichtigsten Figur der polnischen Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bekräftigt, als Wahl-Pariser, seine Verwurzelung in der Musik seiner Heimat. Neben Szymanowski tritt aber auch der prägende Einfluss der französischen Ästhetik offen zutage und, vor allem im zweiten Satz, Laks' Bewunderung für den raffinierten Neoklassizismus Ravels.

Gegen Ende der 1960er Jahre verstummt Laks als Komponist. Nach eigener Aussage vor allem als Reaktion auf den Sechstagekrieg und den staatlich gelenkten Antisemitismus der kommunistischen Regierung in Polen. Ihm ist aber auch bewusst, dass seine Musik in der inzwischen von Serialismus und Postserialismus dominierten europäischen Musikszene kaum mehr Chancen hat. Besonders frustrierend für ihn ist das Schicksal seiner Oper, für die sich keine französische Bühne interessiert: L'Hirondelle inattendue (Die unerwartete Schwalbe), eine Opéra bouffe mit existenzphilosophischem Hintergrund, in der ein berühmtes französisches Chanson die Hauptrolle spielt, einzigartiges Dokument nicht nur der Holocaust-Verarbeitung sondern auch einer europäischen Kultursymbiose, die den nationalistisch-nationalsozialistischen Terror nicht überlebte.

Der große Gesang von Paris

Paris weiß Künstlern einen fantastischen Sinn für Balance, Klarheit und Finesse zu geben, ohne ihnen jemals wegzunehmen, was sie an Eigenem besitzen.

Alexandre Tansman

Will man das Verbindende definieren, das die Werke der Protagonistinnen und Protagonisten einer "École de Paris" – im Sinne Arthur Hoérées – vereint, dann ist es sicher der genius loci. Harsányi hat das in einer seiner "Causerien" von 1945 schön zusammengefasst: "Doch was man bereits jetzt in diesen verschiedenen musikalischen Ausprägungen spüren kann, unabhängig von der unterschiedlichen Nationalität und Herkunft der Autoren, ist eine gewisse gemeinsame Atmosphäre, die von jedem dieser Werke ausgeht. Es ist die Atmosphäre von Paris, es ist das pulsierende Leben von Paris, es ist letztendlich der große Gesang des heutigen Paris, der durch die Jahrhunderte hindurch bis zu uns ertönt."

Die Fülle an fremden Zungen im Paris der Zwischenkriegszeit weckte Ängste vor allem auf Seiten der Konservativen, die eine Überfremdung der französischen Musikkultur befürchteten. Entsprechend unterschiedlich ist der Blick der Beteiligten in diesem Diskurs auf die Sache, und die Haltung der betroffenen Komponisten selbst könnte nicht unterschiedlicher sein, je nach ihrer Herkunft natürlich. Für die amerikanischen Komponisten war Paris eine Zwischenstufe auf dem Weg zu einer nationalen Karriere zuhause, die Biografien von Antheil, Copland und Thomson sprechen für sich. Antheil fürchtete weniger, einem französischen Einfluss zu erliegen als nach 10 Jahren Paris nicht mehr als vollgültiger amerikanischer Komponist anerkannt zu werden: "Ich bin amerikanischer Komponist. Ich habe nicht immer hier gelebt, aber ich bin hier geboren. Und in Europa hieß es stets, ich sei sehr amerikanisch. Und nun erklären alle Leute in Amerika – oder wenigstens in New York –, ich sei sehr europäisch." "Ich hatte keine Lust", schreibt er in Anspielung auf Gershwin, dessen Amerikanismus er zu übertrumpfen sucht, "ein Pariser in New York zu sein. (…) Hemingway hatte mir einmal gesagt: 'Wenn Sie die Geographie, den Background nicht haben, dann haben Sie gar nichts.'"

"Geographie" und "Background" sind es, was die Komponisten Mittel- und Osteuropas in ihrem musikalischen Gepäck in die Kunstmetropole Paris tragen, und was sich, wie Martinů 1956 in einer Radio-Sendung mit dem bezeichnenden Titel "Musiker auf der Suche nach einer Heimat: Emigranten in Europa" auf seinen Lehrer Roussel angesprochen, auch nicht nehmen lässt: "Roussel hat mich auf die französische Art und Weise korrigiert, wissen Sie, nicht zu viele Noten zu schreiben. Im Hinblick auf mein slawisches Temperament hat er mich nicht korrigiert, das konnte er nicht [er lacht]." Tcherepnin hebt in einer Rundfunksendung 1969 die Besonderheit des Pariser Milieus hervor, in dem die nationalen Eigenheiten ausländischer Komponisten nicht nur toleriert werden, sondern, im Gegenteil, sogar zu besonderer – exilbedingter – Entfaltung gelangen können. Das "Klima von Paris", resümiert er im Gespräch mit Joëlle Witold, "französisiert sie nicht, sondern erschließt ihnen, was sie in sich selbst tragen und lässt sie im höchsten Maß sie selbst sein. Ich glaube, wäre Chopin in Polen geblieben, wäre er bedeutend weniger polnisch, als er es durch Paris wurde."

Roland-Manuel lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass sich hinter der vermeintlichen Toleranz der Pariser Musikszene vis à vis dem und den Fremden kaum mehr als Gleichgültigkeit verbirgt, ein laisser faire. In der Präsentation von Simon Laks' 4. Streichquartett im französischen Rundfunk 1962 anlässlich des Kompositionswettbewerbs des Quatuor de Liège, in dem er den Vorsitz hat, resümiert er lakonisch die Situation der "École de Paris" (im erweiterten Sinne): "Und ganz in unserer Nähe diese unerschrockene Schar [von Komponisten], die nicht zögerten, unser Schicksal zu teilen, in einem Land, in dem die Musik seit drei Jahrhunderten am Rande der Kultur lebt, und das ausländischen Musikern immer nur den Vorteil bietet, ihre Kräfte gegen unseren Widerstand zu entwickeln. Ohne uns wären sie nicht die, die sie waren. Aber ohne sie wäre die französische Musik sicherlich nicht das, was sie ist."

Mit dem nationalistisch-nationalsozialistischen Pakt in Frankreich wird die Epoche einer umfassenden europäisch-transatlantischen Musikkultur beendet. Besonders hart trifft es deren jüdischen Anteil. Die große "Säuberung" zwischen 1941 und 1944 zerschlägt alle engen und losen Strukturen und Bindungen. Parallel entwickeln sich neu Gruppierungen, die sich an Stelle der alten setzen. 1942 wird Olivier Messiaen, gerade aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, als Professor ans Pariser Conservatoire berufen. Aus seiner Klasse geht eine Schule hervor, die aufgrund ihrer musikhistorischen Bedeutung mit Fug und Recht als "École de Paris" der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. 1954 gründet Pierre Boulez die Konzertreihe der Domaine Musical, 1970 eröffnet er das Pariser IRCAM, 1976 lanciert er das Ensemble Intercontemporain – Maßnahmen, die Paris auf Jahrzehnte einen ersten Platz in der Welt der musikalischen Avantgarde sicherten.

Je mehr sich die ideologischen Nebel lichten, umso deutlicher werden die Verluste auf dem Schlachtfeld der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar. Manche tun sich nach wie vor schwer, darin etwas anderes als einen natürlichen Selektionsprozess zu sehen. Das Schicksal von Simon Laks, das uns zu diesem Exkurs inspirierte, steht dafür paradigmatisch. Er machte den doppelten Selektionsprozess, den zahllose Künstler seiner Generation durchleben mussten, in extremis durch. Den ersten überlebte er, weil er Musiker war. Den zweiten nicht, weil er die "falsche" Musik schrieb. Das wachsende Interesse an seinem Werk und an seiner Biographie zeigt aber, dass die Geschichte der Musik noch nicht zu Ende erzählt ist.

Frank Harders-Wuthenow

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1  Die Mehrzahl der jüdischen Maler der "École de Paris" wurde Opfer der Shoah. 1951 erschien in Paris auf Jiddisch in nur 375 Exemplaren Hersh Fensters erschütternde Publikation Undzere farpaynikte kinstler (Unsere gequälten Künstler). Das Buch dokumentiert Leben und Werk von 84 osteuropäischen, in Paris arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern, die in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern der Nazis umgebracht wurden. Es wurde erst 2021 in französischer Übersetzung neu herausgegeben.

2  Federico Lazzaro, Écoles de Paris en Musique 1920–1950, Paris 2018.

3  Veau à cinq pattes: Ausdruck für etwas Exzeptionelles, das es eigentlich gar nicht geben kann, das den gewöhnlichen Sterblichen in Erstaunen versetzt oder schockiert.

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